Inhalt

Die Bundestagswahl 2025 – 20.01.2025

Verklärung des Krieges oder konsequenter Verzicht – 12.11.2024

»Ess’ ich nicht!« – 20.9.2024

»Ich bin ein ausgezeichneter Fahrer.« Autismus: Die vom Universum vorgeschlagene Selbstbegrenzung bei Informationsüberflutung – 5.8.2024

Wissend teilhaben an den Schlagzeilen eines Tages – 12.7.2024

Sinnlosigkeit macht Angst – Schuldige werden gesucht. Woher kommt der Antisemitismus? – 6.5.2024

Buchtipp. Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull von Thomas Mann. (Ein offener Brief an die Neue Generation XYZ) – 11.4.2024

»Wurzeln der Gewalt« – 18.3.2024

Julian Assange, Alexei Anatoljewitsch Nawalny, Jamal Khashoggi … – 21.2.2024

»Jenseits der medialen Wahrnehmung« – 1.2.2024

Ein Requiem für die Bauern – 16.1.2024

Mittagessen in der Gemeinschaft. Schuld ist immer der Essensanbieter – 10.11.2023

Liebe Töchter und Söhne, liebe Enkel … – 8.11.2023

Es gibt sie noch – die Stimme der objektiven Wahrheit – 19.10.2023

Wie das Land – so die Schulen – 1.6.2023

Bundestagswahl 2025

Das Diktat der Eigentumsverhältnisse macht die Wahlen nicht frei und die Politiker zu Vasallen dieser Diktatur



n den Tagen, wo wir noch erkennen konnten, wer uns wo und wie übers Ohr haut, gab es immer mal wieder den Streit unter den Intellektuellen, dass die Wahlberechtigten nicht in der Lage seien, »vernünftige« Wahlentscheidung zu treffen, und dass diese ausschließlich von den »richtigen« Meinungen gebildeter Menschen, das heißt von Leuten wie ihnen selbst, entschieden würden.

Heute, wo wir den Verfall der Zivilisation eingestehen müssen, wissen wir, dass immer mehr Leute gar kein Interesse haben, die richtigen Meinungen und schon gar nicht die objektiven Wahrheiten zu kennen. Denn die Quellen, die uns heute zur Verfügung stehen, um zu entscheiden, was »richtig« ist, sind schlichtweg verramscht. Und das, was wirklich wichtig und richtig wäre, wird einfach weggelassen.

Das heißt im Klartext: Die Frage, ob Sie zur Wahl gehen oder nicht, entscheidet nicht, ob sich etwas verändert. Die Chancen, dass sich etwas verändert, sind lange vorbei, an gutem Willen und an Programmen hat es vor der Wahl nie gefehlt.

Die sog. freien Wahlen in den Ländern der globalisierten Wirtschaft sind nicht im geringsten geeignet, an den Machtstrukturen und an deren vertraglich gesicherten Vermögensstrukturen etwas Gravierendes zu verändern. Der Versuch der großen Parteien, die Wahlbeteiligung zu steigern, dient einzig und allein der Erhaltung der Meinungsdiktatur: eben nichts Grundsätzliches zu verändern.

Und da liegt der Hase im Pfeffer. Das Interesse an der Besitzstandswahrung der Politiker, die Erhaltung von persönlichen und kollektiven Begehrlichkeiten sind nicht geeignet, die Natur und den darin lebenden Menschen vor den monströsen wirtschaftlichen Entwicklungen zu schützen.

Lange Zeit hatten die alteingesessenen Parteien ein leichtes Spiel, der Mehrheit zu erklären, dass es keine bessere Alterative zur kapitalistischen Produktionsweise gibt: Wohlstand, Generationenvertrag, Witwenrente und Verbeamtung.

Aber zu groß ist der Abstand zwischen Reich und Arm geworden, zu groß der Plastikklumpen im Pazifik, zu umfangreich die Zugeständnisse, mit Waffen zu handeln.

Es brodelt im Volk. Was früher den freien Universitäten vorbehalten blieb, nämlich Gesellschaftskritik zu üben, versuchen nun alle. Wobei erstere versuchten, wissenschaftlich und parteiunabhängig zu arbeiten, lässt der Bürger die Sau raus und begibt sich in den Mahlstrom der alles verschlingenden Informationsschmieden des Populismus in alter und neuer Gestalt.

Der Eindruck, dass die drängendsten Fragen des menschlichen Zusammenlebens von Jahr zu Jahr keine Änderung erfahren, ja nicht einmal mehr berührt werden, verfestigt sich.

Getrieben davon, dass es so nicht weitergehen kann, weil der Wohlstand in Gefahr ist, darf nun jeder sein persönliches Feindbild verkünden. Keiner hält den Schwätzer auf. Das erste Opfer und wahrscheinlich das gravierendste sind die Lehrer, die Angst haben müssen, den Kindern zu widersprechen, wenn diese einen Kübel braune Jauche in die Schule mitbringen.

Die Wahrheit stirbt im Klassenzimmer. Der Weg ist frei für Monopolkapitalisten, Oligarchen, Populisten in den unterschiedlichsten Kleidern und mit kruden Allmachtsphantasien, sich der Wähler zu bedienen.

Was tun?

Sollte man sich nicht gleich in einen Tesla setzen und Musk das Denken überlassen? Sein persönliches Stimmrecht der Wirtschaft überlassen, es verkaufen?

Sollte man das geringste Übel, aus Protest die AfD wählen, oder sollte man gar nicht wählen?

Allein die Unstimmigkeit in dieser Frage der Teilnahme am politischen Leben macht den Wähler und den Nichtwähler zum Spielball der politischen Mächte.

Es kommt doch nicht darauf an, die Spielregeln der Demokratie den beschränkten (bekloppten) Teilnehmern anzupassen, sondern darauf, die Teilnehmer damit zu konfrontieren, was notwendig ist, um das Trennende zu überwinden, im Sinne eines natürliche Universalismus.

So trifft der Wahlkampfleiter / Wahlkampfmanager / Stimmenjäger heute auf:

  • die Vereinzelung der persönlichen Einbindung des Arbeitnehmers in die Arbeitswelt,
  • die Verdrossenheit des Menschen wegen Verfremdung der Arbeitsleistung am Gesamtergebnis,
  • die Sorgen der Eltern, alles zeitlich in den Griff zu bekommen, die horrende Miete zu bezahlen und sich um pflegebedürftige Elternteile oder Kinder zu kümmern,
  • innere Empörung über die Rechte und Pflichten des Bürgers, die nicht gleichermaßen allen die eigenständige Existenz sichern.

Bis hierhin eigentlich nichts Neues. Aber seit kurzem bekommt es der Parlamentarismus noch mit:

  • einer viel subtileren Bestimmung des Menschen zu tun – nichtbinäre Geschlechtsidentität, Transgeschlechtlichkeit usw. erweitern die Scheingestalten der zwischenmenschlichen Begegnungen –, 
  • einer elitären Anerkennungssucht der ewig religiösen Laizismusverächter und 
  • einem ekelerregenden Nationalismus, der unter kolonialem Gedächtnisschwund leidet. 

Wen also wählen?

Gar nicht?

Ja, wenn man der herrschenden sozialen Ordnung und ihren Legitimierungsritualen die Stimme verweigert, weil man davon überzeugt ist, dass die aktuellen lebensbedrohlichen Ereignisse (Klimawandel und Hungersnot) unter den gegebenen Eigentumsverhältnissen nicht zu lösen sind.

Die Konsequenz aus diesem persönlichen Manifest sollte aber einhergehen mit der persönlichen Abdankung an die persönlichen Bequemlichkeiten, die sich aus den inkonsequenten Umsetzungen der politischen Ziele speisen. Sonst bist du ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle.

Wenn wählen, dann links, soweit es geht. 

Vor zwei Jahren, am 15.01.2023, schrieb ich dem Bürgerbüro von Sahra Wagenknecht folgende Zeilen:

»Sehr geehrte Frau Wagenknecht, hallo, Team Wagenknecht!

  1. Als ich in Politischer Ökonomie des Kapitalismus an der Handelshochschule Leipzig 1982 in einer Klausur das Thema verfehlte, wusste ich noch nicht, wie sehr mich die Äußerung der jungen Dozentin, Frau Köhler, bis heute prägt. Sie gab mir eine schlechte Note und sprach: ›Ich hatte nicht danach gefragt, was Sie zu diesem Thema alles wissen.‹ Wenn Ursache und Wirkung, Ross und Reiter nicht genau benannt werden, fliegt uns die Befreiung des Menschen gemäß Ostrowski oder die Gestaltung des Übermenschen gemäß Nietzsche um die Ohren.
  2. In meinem zweiten Versuch, mir mal wieder alles von der Seele zu schreiben, nämlich in meinem Buch In Asymmetrie zur Schöpfung, kommen auch Sie vor, Frau Wagenknecht. Ich zitiere mich unter folgender Zwischenüberschrift auf Seite 82 f.: ›Die Politik braucht antikapitalistische Autoritäten. Haben wir nicht, im Keller aber vielleicht
    Andreas Scheuer, Heinz-Christian Strache, Recep Tayyip Erdoğan, Donald P. Bellisario und Donald Trump erlaube ich mir stellvertretend als Antipoden der Wahrheit zu deklarieren. Da sind noch solche apologetischen Gespenster wie Steinmeier, Merkel und Schäuble. Sie sind die verdienten Helden der abgetakelten Demokratie. Sie ähneln in ihrem selbstherrlichen Verständnis den Aktivisten in der damaligen DDR, sind mit Leib und Seele Volksvertreter, aber offenkundig blind gegenüber denen, die die Macht finanzieren und sichern.
  3. Und wenn ich schon mal dabei bin: Gregor Gysi, Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine sind keinen Deut besser. Sie haben auch nur sich selbst gepredigt und ordentlich weggelassen vom Eingemachten, als wenn man sich des Kommunistischen Manifests schämen müsste. Sich hinsetzen und warten, dass die Not die Menschen in die linke Hälfte des Spielfeldes treiben wird, kann nicht funktionieren. Denn es wird keiner wirklich Kommunist, wenn keine Autorität da ist, die sich kreuzigen lässt, wenn es notwendig wird. Die Umkehr braucht die Abstimmung mit den Füßen und den Verzicht auf die Lüge. Und vor allem Weggefährten, die dieses Kreuz der Wahrheit mittragen.‹ (1) … Ich schreibe Ihnen, weil mir eine Stimme sagt, dass Sie auf dem richtigen Weg sind, wenn Sie sagen ›DIE LINKE braucht ein klares Profil‹.

    Tun Sie es, aber verfehlen Sie das Thema nicht: Sie werden nicht umhinkommen, auch die Form der politischen Auseinandersetzung zu verändern.

    Gegeben: Hunderttausende Akademiker im Elfenbeinturm, die sich in der Postdemokratie eingerichtet haben und sich eine Stimme wünschen, die authentisch und wahrhaftig ist. Dort schlummern Ihre Helfer, die müssen Sie als Multiplikatoren gewinnen. Lange sind die nicht mehr da, denn sie wachsen nicht nach.

    Gesucht: Der Mensch, selbst das Ergebnis der objektiven Realität, der auf die Hegemonie außerhalb seiner natürlichen Zuhandenheit verzichtet. Es braucht Gefährten der Natur, die sich wissenschaftlich orientieren.

    Lösung: Der wahrhaft Edle predigt nicht, was er tut, bevor er nicht getan hat, was er predigt. Tun Sie es, Gründen Sie eine eigene Partei. Fassen Sie sich kurz, es ist alles gesagt, wir müssen es einfach nur tun. Sie brauchen keine Fackeln im Sturm, sondern Teelichter der Wirklichkeit, die Schritt für Schritt die Spaß- und Kriegsgesellschaft ad absurdum führen.«

Sie schreiben in Ihrem Newsletter vom 16. Januar 2025: »Unser Land braucht Politiker mit Rückgrat, die sich für Diplomatie und Frieden einsetzen – kein wahnwitziges ›Aufrüsten für Donald‹, für das die AfD genauso steht wie Taurus-Merz, Panzer-Pistorius und die Sofakrieger von den Grünen. Unser Land braucht billige Energie und keine billigen Wahlversprechen. Es braucht Politiker mit Kompetenz, die unsere Interessen verteidigen, und keine Dilettanten oder Black-Rock-Lobbyisten. Und es braucht Politiker, die unseren Sozialstaat und die Meinungsfreiheit verteidigen und die sich für eine gerechte Leistungsgesellschaft mit guten Löhnen, bezahlbarem Wohnraum und einer würdevollen Rente einsetzen!«

Diese Situationsbeschreibung klingt plausibel, Frau Wagenknecht, aber programmatisch müssen Sie nun nachschieben, wie wir die Verwahrlosung und Verelendung unseres Zusammenlebens verändern können. Beginnen müssen wir mit der Aufarbeitung der Abhängigkeiten der politischen Verhältnisse von den Vermögens- und Einkommensgegebenheiten.

Worte wie Meinungsfreiheit, gerechte Leistungsgesellschaft, gute Löhne, Wohnraum, der bezahlbar ist, eine würdevolle Rente usw. sagen noch nichts darüber aus, wie das passieren soll.

Die politischen Systeme versagen, weil sie diese gesellschaftlichen Konflikte gar nicht verändern können, sondern sie im günstigsten Fall nur kommentieren. Je trivialer wir versuchen, Wähler zu gewinnen, umso einfacher wird für jeden die Antwort ausfallen, was er meint, tun zu müssen: Der Wähler erklärt sich die Welt willkürlich und mitunter auch aus einer Bierlaune heraus oder aus Mein Kampf.

Bildung, die uns eigentlich zwingt, wissenschaftlich zu arbeiten, verliert auf Grund des Durcheinanders von billigen, trivialen und subtilen Meinungen im World Wide Web und den darin vernetzten sozialen Medien ihre Kompetenz. Die Beliebigkeit der Standortbestimmung der Wähler der Gesellschaft wird zum postdemokratischen Bühnenstück und spannt selbst Akademiker ein, um die Große Plapperei zu unterstützen.

Der Altar, der Katheter, das Bundestagspult haben versagt. 

Nietzsche warnt: »Weil Etwas für uns durchsichtig geworden ist, meinen wir, es könne uns nunmehr keinen Widerstand leisten – und sind dann erstaunt, dass wir hindurchsehen und doch nicht hindurch können! Es ist diess die selbe Thorheit und das selbe Erstaunen, in welches die Fliege vor jedem Glasfenster geräth.« (2)

Wir bekommen den Laden nicht in den Griff, wenn wir handeln, ohne vorher über die Konsequenzen im Kleinen wie im Großen nachgedacht zu haben. Dass uns diese Herangehensweise zu einer Abhängigkeit der Umstände (Determinismus) zwingt, wird uns kurzfristig als unfrei erscheinen lassen. Langfristig wird dieses Diktat der Natur unseren Geist von der Vorstellung befreien, wir könnten ein paar Millionen Jahre in Programme fassen.

Das ist ein bisschen so, wie: Jesus ist für uns gestorben. Wir müssten uns keinen Kopf mehr machen, was wir falsch gemacht haben. Es ist uns verziehen. Atheistisch formuliert: Die Natur weiß, was für uns Menschen gut ist. Lehn dich zurück. Zieh die Schuhe aus, wenn du ins Klassenzimmer gehst, es ist heiliger Boden.


(1) Hier hat der Brief eine Fußnote: »Bitte nicht schimpfen. Es sind natürlich nicht Sie – was weiß ich denn von Ihren Bekenntnissen und Entscheidungen, gemeint ist die Art, wie die LINKE bisher in den Ring steigt. Grundsätzliches darf nicht zur Disposition gestellt werden. Um einen Vergleich zu bringen: Solange ein Großteil der Basiswähler der Grünen homöopathische Mittel verteidigt und Herr R. Habeck den Pazifismus entsorgt, wird die Norm dieser Partei immer unwissenschaftlich definiert sein.

Links muss klar sein, dass es schon lange nicht mehr darum geht, zu revolutionieren, zu enteignen, zu reformieren u.ä. Der Planet stirbt. Es wird sich ganz schnell für jeden von uns die Notwendigkeit einstellen müssen, seinen Lebensstil zu ändern, indem er wissend teilnimmt und Verantwortung übernimmt. Diese Verantwortung speist sich nicht aus einem parlamentarischen Abwägen und Suchen nach dem geringsten Übel, sondern definiert sich über die durch die Naturwissenschaften begründeten Notwendigkeiten. Die LINKE kann hier der Hüter sein, dazu muss sie die Verantwortung der Wissenschaftler einberufen. Dass sie gefälligst ihr Kreuz tragen sollen und der Natur gehorchen müssen und nicht die Lieder von denen singen, die sie bezahlen.«


(2) Friedrich Nietzsche: »Morgenröte«. In: Friedrich Nietzsche: Morgenröte. Idyllen aus Messina. Die fröhliche Wissenschaft. Kritische Studienausgabe. Band 3. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. 2. Auflage. München u. a. 1988, S. 270.




Lutz Richter

20.01.2025


Die Verklärung des Krieges oder konsequenter Verzicht

Wer bestimmt das Maß der Rüstungsausgaben, die Art der Waffen und wo wir sie einsetzen? Und nach wie vor die Frage: Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin

Es ist ein Phänomen, dass der demokratiegläubige Bürger hofft, dass ihn die Staatsmacht vor dem Fremden, den Feinden und manchmal auch vor den Andersgläubigen schützt. Die Bestimmung dieser Andersdenkenden wird immer schwieriger, die Frontlinien zwischen den am Krieg Beteiligten ähneln eher einer Isobarenkarte als einem Steckbrief. Und wenn dann noch jemand kommt, der weiß, was es zu verteidigen gilt, dann atmet der Bürger auf: »Pistorius macht ›den allergrößten Eindruck‹, er gilt in allen Rankinglisten aller ›demokratischen Blätter‹ als der gegenwärtig beliebteste deutsche Politiker. (…) Wenn Krieg ist, liebt man niemanden aus dem politischen Personal so sehr wie den Kriegsminister. Der kennt sich aus. Meint man.« (1) Nun ist das so eine Sache mit dem Sichauskennen. Die Gemengelage der Machtverhältnisse im Kontext der Geschichte bräuchte da schon etwas mehr als züchtige Reden mit Medienrummel, Blasmusik und Erbseneintopf aus der Gulaschkanone.

Neben der Frage der Glaubwürdigkeit, die gar nicht häufig genug gestellt werden kann, um nicht zu erhoffen, was gar nicht möglich ist, geht es um die Frage, wie viel militärischen Schutz wir unserer Staatsmacht abverlangen wollen, auch wenn wir vielleicht nie selbst bereit wären, diesen Dienst zu übernehmen – vielleicht um nicht darin umzukommen oder weil wir gar nicht überprüfen können, ob bei der Darstellung des Frontverlaufs alles wahrheitsgetreu zugeht und ob nichts an Information weggelassen wird. Es ist der Vorgesetzte, der in der Hierarchie der Armee bestimmt, was der Dienstgradniederere zu wissen und zu tun hat. Und der Niederere kann nur hoffen, dass sein Vorgesetzter umfassend informiert ist.

Irgendwann dient diese Befehlskette zur Entscheidungsfindung, wann der Verteidigungsfall eingetreten ist. Wehe dem, wenn dann diese Orientierungsstruktur, die sich aus humanen und digitalen Informationsformen zusammensetzt, hierzu außerstande ist.

»Die Fragen, wer die Entscheidung trifft, dass ›die zuständigen Bundesorgane außerstande sind, den Verteidigungsfall festzustellen, und wer damit die Feststellung ›als getroffen‹ geltend erklärt, wer den ›Zeitpunkt‹ feststellt, ›in dem der Angriff begonnen hat‹, bleiben unbeantwortet, weil sie ohne Selbstwiderspruch gar nicht beantwortet werden können. Aber irgendjemand (der vom Grundgesetz logischerweise nicht benannt werden kann) muss diese Entscheidung ja treffen. Jemand muss die Soldaten an die Front schicken, sonst findet die ›Verteidigung‹ nicht statt. (…) Wer über den Ausnahmezustand entscheidet, ist – so die berühmte Definition von Carl Schmitt – der Souverän. Auch wenn man seinen Namen nicht kennt. All die scheinbar beruhigenden Vorkehrungen in der Verfassung können also der Möglichkeit des Betrugs der Öffentlichkeit hinsichtlich eines Kriegszustandes offensichtlich nicht vorbeugen. Denn auch ein Parlament kann belogen werden. Bei der Verdinglichung von Menschen zu Tötungszwecken gibt es keinen Unterschied zwischen Demokratien und Diktaturen.« (2)

Die zeitlich unter Druck stehende Befehlskette der besten Demokratie unterscheidet sich im Ernstfall nicht von einem irren Präsidenten der Vereinigten Staaten, der den Atomkoffer in der Hand hält.

Vielleicht wird auch deshalb die Diskussion um die Wehrpflicht im Sande verlaufen, weil sich keiner diesen Ungewissheiten freiwillig unterwerfen will.

Einmal in diese Befehlskette integriert, ist es schwierig, zu diskutieren und aus der Feindbildbestimmung einen bunten Kaffeenachmittag zu machen.

Man vermeidet schon im Vorfeld die seelischen Qualen, die sich aus den subjektiven, von fremden Entscheidungsträgern vorgenommenen Bewertungen des politischen Gesamtzusammenhanges für einen selbst ergeben könnten.

Es bedarf aber gar nicht des Ernstfalls. Wir sind jeden Tag mittendrin in der militärischen Standortbestimmung. Wie viel militärisch zu tun müssen wir in Deutschland bereit sein, um wehrhaft zu sein? Wie viele Waffen an andere Länder zu liefern müssen wir bereit sein? Welche Waffengattungen sind notwendig und welche nicht? Oder soll es nur ein bisschen Kaserne mit Raketenabwehrsystemen sein?

Wenn man alles konsequent zu Ende denkt, dann läuft es auf richtig oder gar nicht hinaus: aufrüsten, bis der Arzt kommt, oder sich dem Feind um des Friedens willen ergeben. Beide Möglichkeiten sind 2000 Jahre alt. Sich Rom ergeben oder sich kreuzigen lassen. Die Diplomatie, der Mittelweg, ist in dieser Angelegenheit populistisch und funktioniert nur mit der Abschreckung durch die modernsten Waffenarsenale der Beteiligten.

Es muss uns klar sein, dass mit ein bisschen Waffen (z.B. keine Mittelstreckenraketen) oder schüchternen Waffenlieferungen an die Ukraine kein Frieden zu haben ist. Krieg endet, wenn der Feind am Boden liegt, die Waffen knapp werden, oder durch den Friedensschluss, wenn so mehr Einnahmen winken und mehr Profit zu generieren ist, als wenn der Krieg weiter fortgeführt wird. Wenn nichts mehr zu verdienen ist, werden die Verteidigungsminister, Reichswehrminister, Kriegsminister und auch Schauspieler vor die Kamera treten und erklären, dass sie aus humanistischen Gründen jetzt den Krieg beenden. 

Verzichte ich aber ganz auf den Schutz, verliere ich alles außer vielleicht meinem Leben, aber wer will das?

Eine brillante Illustration dieses Konfliktes soll das Problem verdeutlichen:

In dem amerikanischen Film Eine Frage der Ehre (Originaltitel: A Few Good Men) aus dem Jahr 1992 spielt Tom Cruise den  LTJG (Lieutenant Junior Grade) Daniel Kaffee.

Er ist der sympathische Anwalt (3), der die militärische Maschinerie der US Army in ihrer Bedeutung und Rolle für die Sicherheit in der Welt nicht grundsätzlich hinterfragt, aber die Organisation der Armee im Innern sauber sehen möchte, gerecht und anständig, ehrenhaft, tapfer und tugendhaft. (Man wäre blind, wenn man diesen Film nicht auch als Werbung sehen würde, sich rekrutieren zu lassen.)

Seinen Gegenspieler gibt Jack Nicholson als den Kommandeur der Bodentruppen des US-Stützpunkts Guantanamo Bay, COL Nathan R. Jessep. Er sorgt für die Disziplinierung der Rekruten, indem er in der Truppe ein System der Selbstdisziplinierung implementiert, den „Code Red“ (4).

Zum Inhalt:

Der Soldat William Santiago ist »ums Leben gekommen, nachdem er von seinen Kameraden Dawson und Downey tätlich angegriffen worden ist. Santiago hat als Außenseiter gegolten, während die beiden mutmaßlichen Täter Vorzeige-Marines sind. Zunächst ist unklar, ob es sich bei dem Angriff um eine Strafaktion (Code Red) handelte, die – obwohl offiziell verboten – von einem Vorgesetzten angeordnet wurde.

Die gegen die beiden vom Militärgericht erhobene Anklage lautet auf Mord, Verschwörung zum Mord sowie ›Verhalten unwürdig eines Marines‹. Dawson und Downey wird vorgeworfen, Santiago gezielt ermordet zu haben, um zu verhindern, dass dieser Informationen über ein früheres Fehlverhalten Dawsons an den NCIS weiterleitet. Die beiden Angeklagten hingegen stellen den Todesfall als unbeabsichtigte Folge einer von Vorgesetzten befohlenen Strafaktion dar und sehen sich somit zu Unrecht angeklagt.« (5)

Das Fehlverhalten, das nicht mehr zu verheimlichen ist, liegt eindeutig bei dem Kommandeur Jessep. Er muss sich als Zeuge vor einem Geschworenengericht rechtfertigen. Seine narzisstische und selbstgerechte Eigeninitiative, die Ehre der Truppe aufrechtzuerhalten, darf natürlich nicht zum Tod eines Soldaten führen – sicherlich gängige Praxis, nur passieren darf nichts. Das bietet dem jungen Anwalt die Möglichkeit, die kritischen Dispositionen des Regisseurs vorzutragen und das System vorzuführen.

Der Dialog im Gerichtssaal entlarvt den Kommandeur nicht nur als Täter, sondern auch als Opfer des ganzen Systems. Und genau diesen zweite Aspekt bringt diese Filmstory in meinen heutigen Artikel ein.

Anwalt Kaffee: »Haben Sie den Code Red befohlen? (…)«

Kommandeur Jessep: »Sie wollen Antworten? (…) Sie wollen Antworten? (…) Sie können die Wahrheit doch gar nicht vertragen. Junge, wir leben in einer Welt voller Mauern, und diese Mauern müssen von Männern mit Gewehren beschützt werden. Und wer soll das tun? Sie? (…) Ich trage eine größere Verantwortung, als es für Sie überhaupt vorstellbar ist. Sie weinen um Santiago. Und Sie verfluchen die Marines. Sie genießen den Luxus. Sie genießen den Luxus, nicht zu wissen, was ich weiß, dass Santiagos Tod zwar tragisch ist, aber wahrscheinlich Leben gerettet hat. Und dass meine Existenz, obwohl Sie Ihnen grotesk vorkommt und unverständlich ist, Leben rettet.

Sie wollen das nicht wahrhaben, denn tief in Ihrem Inneren – aber das sagen Sie nicht auf Partys – wollen Sie, dass ich an dieser Mauer stehe. Sie brauchen mich an dieser Mauer. Wir stehen zu Worten wie Ehre, Kodex, Loyalität. Für uns sind diese Worte die Plattform eines Lebens, das wir leben, um etwas zu verteidigen. Für Sie sind das nur Sprüche.

Ich habe weder die Zeit noch das Bedürfnis, mich hier zu verantworten, vor einem Mann, der unter die Decke jener Freiheit schlüpft, die ich den Menschen täglich gebe, und der dann die Art anzweifelt, wie ich das mache. Ich würde es vorziehen, wenn Sie nur ›Danke‹ sagen und dann weitergehen würden. Andernfalls schlage ich vor, dass Sie eine Waffe in die Hand nehmen und die Wache übernehmen. Auf jeden Fall ist es mir vollkommen egal, was Sie denken, wozu Sie ein Recht hätten.«

Kaffee: »Haben Sie den Code Red befohlen?«

Jessep: »Ich habe meine Pflicht getan.«

Kaffee: »Haben Sie den Code Red befohlen?«

Jessep: »Sie haben verdammt recht, so ist es. (…)«

Jessep wird abgeführt und brüllt:

»Ihr beschissenen Pfeifen. Ihr habt keine Ahnung, wie eine Nation zu verteidigen ist. Sie haben heute nichts anderes getan, als das Land zu schwächen, Kaffee. Mehr haben Sie nicht erreicht. Sie bringen nur Menschenleben in Gefahr. Träumen Sie schön, Junge.«

Kaffee: »Nennen Sie mich nicht ›Junge‹, ich bin Rechtsanwalt und Offizier in der United States Navy, und Sie sind jetzt verhaftet, Sie altes Dreckschwein.« (6)

Die Genugtuung, dass dieses Dreckschwein Jessep (gigantische schauspielerische Leistung von Nicholson) nun seine Strafe bekommt, hält sich bei mir in Grenzen.

Schlüpfen wir nicht doch am Ende gerne unter die Decke, die uns da Pistorius für 100 Milliarden strickt?


Lutz Richter

12.11.2024




1  Bernhard Schindlbeck: »Wer will unter die Soldaten?«. In: Ossietzky, Heft 21/2024 vom 19. Oktober, S. 641.

2  Ebenda, S. 643.

3  Der Schauspieler als Person ist mir nicht sympathisch, weil er ein hochrangiger Scientologe ist, aber seine schauspielerische Leistung schon.

4  Zu vergleichen mit der Entlassungs-Kandidaten(EK)-Bewegung in der ehemaligen NVA der DDR. Von allen praktiziert, von allen geduldet, aber es durfte keiner dabei Schaden nehmen. In den anderthalb Jahren Grundwehrdienst gab es ein interne (nicht vorgeschriebene) personelle Einordnung nach Diensthalbjahren. Erstes Halbjahr: Der Spritzer; zweites: der Vize; und drittes: der Entlassungs-Kandidat. Die geheime Befehlskette sicherte den »höheren« Semestern den Gehorsam der niedereren, für allerlei Dummheiten, Schikanen und – sicher auch mal ab und an – einen Code Red.

5  Aus dem Wikipedia-Artikel »Eine Frage der Ehre«; https://de.wikipedia.org/wiki/Eine_Frage_der_Ehre (aufgerufen am 27.10.2024).

6  Zum Dialog siehe: https://www.youtube.com/watch?v=KJK19TWVaOc (aufgerufen am 11.11.2024).

»Ess’ ich nicht!«

Für mich persönlich steht fest, dass es keine Moral gibt. Die Natur hat keine Moral, nur wir Menschen haben uns ganz viel Moral ausgedacht. Aber mit dieser Meinung stehe ich ziemlich allein auf weiter Flur.

Man braucht doch Anhaltspunkte, Richtlinien und Verhaltensregeln, die einem Halt und Sicherheit geben, spricht die Community.

Gut, wenn es denn so wäre – aber was haben moralische Instanzen erreicht?

1945: Die gesamte Philosophie der westlichen Welt stand nach dem Holocaust und dem Abwurf der Atombombe auf Hiroshima und Nagasaki unter Schock. Die beste Moral war nichts mehr wert.

2024: Es kommt mir so vor, als ob trotz tausender Morälchen, Menschenrechten, Sozialgesetzbuch und Achtsamkeitslehre immer weniger Verbindlichkeit im Zusammenleben der Leute und im Umgang mit der Natur existiert.

Was nützen und bewirken die Lippenbekenntnisse der gesellschaftlichen Akteure, wenn sie nur der Sicherung ihrer Saläre, ihrer Gagen und Honorare dienen?

Wenn sich jemand die Zigarette mit einem Hunderteuroschein anzündet, ruft das Entsetzen hervor. Wenn ein Kitakind an der Küchenklappe den Kartoffelgratin, der frisch vor Ort zubereitet worden ist und der sich ansonsten allgemeiner Beliebtheit erfreut, mit den Worten verweigert: »Ess’ ich nicht!« und sich stattdessen eine Schnitte mit Schokolade bestellt, ist das nicht viel anders.

Wohlgemerkt, wir reden hier über zehn Kinder von achtzig an diesem Tag. (Sie denken bitte auch daran, dass die zehn Portionen in der Tonne landen, denn sie sind bestellt, gekocht und bezahlt).

Die Eltern und Betreuer sind sicherlich nicht ohne gute Vorsätze und meinen es sicherlich nicht böse, wenn sie das fünfjährige Kind alleine die Freiheit vor dem Koch proben lassen.

Es ist zehn nach zwölf.

Wie irregeleitet sind die Asylanten, sich unser Land als Zufluchtsort zu wählen. Ich hoffe, sie behalten ihre Würde auch in Armut und als Zierde. Lasst euch nicht moralisch assimilieren, sondern straft uns mit Dankbarkeit für einen Kartoffelauflauf.


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20.09.2024

»Ich bin ein ausgezeichneter Fahrer.«

Autismus: Die vom Universum vorgeschlagene Selbstbegrenzung bei Informationsüberflutung

Den Satz oben spricht Dustin Hoffman in der Rolle des Raymond Babbitt in dem Film Rain Man von 1988. (1) Seither scheinen alle wenigstens einen Autisten zu kennen.

Ich weiß nicht, welche genetischen Veränderungen oder Prädispositionen dafür verantwortlich sind, dass es unter uns Menschen gibt, denen wir neuronale Störungen zuschreiben und die wir so als etwas Abartiges, Ungesundes, zu Behandelndes plakatieren.

Die Zoologie ist da großzügiger. Wenn sie in der Natur noch nicht katalogisierte Kreaturen entdeckt, wird man sich hüten, von Störungen zu sprechen, wenn zum Beispiel die Augen bei einem Insekt auf den Rücken angebracht sind und diese sich um 270 Grad drehen können. Oder denken wir nur an Mantis religiosa (Gottesanbeterin), bei der das Insektenweibchen das Männchen nach dem Geschlechtsverkehr verspeist.

Alles wird diszipliniert und interdiszipliniert als evolutionsbedingte Notwendigkeit eingestuft. Keiner wird hier von Störungen sprechen. Im Gegenteil, früher oder später, wenn die Wissenschaft dann soweit ist, kommt der Nutzen für die Evolution ans Tageslicht. Im Falle von Mantis religiosa »ist es (…) auch für das Männchen sinnvoll, sich vom Weibchen bei der Paarung fressen zu lassen, wie die Royal Society bereits 2016 wissenschaftlich untermauerte. Das Gelege macht 30 bis 50 Prozent des Gewichts des Weibchens aus, somit ist ein schwereres Tier in der Lage, deutlich mehr Eier zu produzieren. Die rund 30 Prozent der Männchen, die Opfer von Sexualkannibalismus werden, tragen somit dazu bei, dass sie mehr eigenen Nachwuchs zeugen«. (2)

Zurück zum heutigen Mensch, dem Homo oeconomicus, den man später als Bindeglied zwischen Affe und Homo superior (Übermensch) katalogisieren wird.

Interessant ist zumindest für mich, mit welcher Selbstsicherheit die neurowissenschaftliche Forschung (3) bei Autismus von der Störung der neuronalen Entwicklung spricht.

Mit zunehmender Wohlstandsverwahrlosung und sich verbreitenden hyperneurotischen Tagesabläufen scheinen sich plötzlich diese angeborenen oder frühkindlichen Defizite als Überlebensvorteile herauszustellen, um solchem Zeitgeist auf Dauer standhalten zu können.

Der hedonistische Überkonsument benutzt sein Bewusstsein immer seltener für eine kritische Erschließung der zeitlichen Dimension seines Daseins, und es gibt immer weniger Selbstbewusstsein – dafür aber eine nicht mehr zu ordnende und zu durchschauende Informationskultur einer blind ins Entertainment rasenden Herde.

Der durch die soziale Ungerechtigkeit von Arm und Reich eingeschränkte wechselseitige soziale Umgang und Austausch mit seinem Vis-à-vis ist für den Autisten kein Verlust oder unangenehmes Gefühl. Im Gegenteil: Dass er selbst seine Positionierung akzeptiert, geschieht in Abstimmung mit seinen Fähigkeiten und Fertigkeiten. Es bedarf keines Dritten, um glücklich zu sein. Der Dritte kommt nur ins Spiel, damit der Autist versteht, warum die anderen, die Normalen, so komisch sind und warum man den Arbeitgeber während des Einstellungsgesprächs nicht gleich nach dem ersten Urlaub fragt.

Ich habe in der Schule noch gelernt, dass die Sprache eine Errungenschaft der Menschheitsentwicklung ist. Da inzwischen aber alles gesagt ist, was gut und böse ist, sich aber keiner daran hält – wozu dann noch große Worte machen? Es strengt einen Autisten an, Fragen zu beantworten, wo er sich sicher ist, dass sie nicht der unmittelbaren Zuhandenheit dienen. Eventuell, wahrscheinlich und das ist nicht sicher sind wie Viren in Hornissengröße, die in den Kopf wollen, um dann den Wohlfühl-Algorithmus des Tagesablaufs zu stören.

Das ist keine Überheblichkeit, wenn dann nur bruchstückartige Versuche von Antworten kommen, nein, das ist der reine Selbstschutz. Hören Sie genau hin, wenn Sie mal die Gelegenheit haben, einen solchen Typen zu treffen. Zwischen den Zeilen höre ich immer: Was kümmert ihr euch denn um die Spatzen, was sie morgen fressen werden …? Lasst mich doch in Ruhe, in fünf Minuten habe ich Feierabend, und ich muss noch alle Fenster im Büro zumachen.

Der erfahrene Autist, also der, der mehrere Handlungskontinuitäten nebeneinander ablaufen lassen kann, ohne gleich in Panik zu verfallen, merkt ganz schnell, wenn das Gespräch nur der Unterhaltung dienen soll. Für einen gesunden Autisten ist die kurzweilige Unterhaltung nicht undenkbar, aber dann bitte an einem dafür vorgesehenen Platz und zu einer geplanten Zeit. Geschieht es zum unpassenden Zeitpunkt, kommt es zum Gegenangriff.

Der Autist bedient sich dann gern der Prosaform des Aphorismus, um seinem Gesprächspartner einen für ihn an dieser Stelle wichtigen Gedanken anheimzugeben. Wenn Sie in den Genuss derartiger komprimierter archivierter Lebenserfahrung kommen sollten, dann schauen Sie tief in das, was SEIN ist. Die Wirkung, die er mit dem Abruf dieser einzigartigen Erfahrungen bei Ihnen erreicht, ist ihm völlig unwichtig. Es zählt nur der Wille, diese unangenehme Situation, nämlich sich mit Ihnen zu unterhalten, so schnell wie möglich zu beenden. Zarathustra gleich, der tanzend auf dem Seil dem Publikum entflieht, sucht der kritische Geist einen geeigneten Weg aus der nichtentscheidungsfähigen Herde, und wenn die Flucht auch nur mit den Augen gelingt.

Wir sollten vorsichtig sein. Solange wir Leid, Sorgen und Nöte nicht in mathematischen Gleichungen ausdrücken können (4), tun wir gut daran, davon auszugehen, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse Ursache für unsere Befindlichkeiten sind und vermeintliche Fehlentwicklungen manchmal die Lösung.


Lutz Richter


5.8.2024


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1     Als ich den Film damals sah, ahnte ich nicht, dass ich einmal ein ganzes Stück mit einem so liebenswerten Menschen gehen würde. Aber Vorsicht! Jeder dieser Typen ist einzigartig, was jede Klassifizierung unbrauchbar macht.

2    Wikipedia-Artikel »Europäische Gottesanbeterin«; https://de.wikipedia.org/wiki/Europäische_Gottesanbeterin (aufgerufen am 5.8.2024).

3     Neurowissenschaftliche Forschung ist heute ein Netzwerk von naturwissenschaftlichen Disziplinen, wie etwa Physiologie, Psychologie, Medizin, Biologie, Informatik, Künstliche Intelligenz (als Teilgebiet der Informatik) und Mathematik.

4     Persönliches Leid in mathematischen Gleichungen auszudrücken zu können hieße, die Relativitätstheorie mit der Quantenphysik in Einklang gebracht zu haben.

Wissend teilhaben an den Schlagzeilen eines Tages


Junge Welt

vom 12. Juli 2024


1.

Titelseite

USA wollen weitreichende Waffen in der Bundesrepublik stationieren. Bundestag wurde nicht gefragt, Protest von BSW, Die Linke, AfD und IPPNW

… Mit der Stationierung von »Tomahawk« und Hyperschallraketen steigt die militärische Bedrohung für Russland auf eine ähnliche Stufe wie die nach der Stationierung von US-Mittelstreckenraketen 1983 in Westeuropa für die Sowjetunion …

2.

Israels Armee greift Gaza-Stadt an und fordert Bevölkerung zur Evakuierung auf

Al-Dschasira-Reporterin Hind Khoudary berichtet aus Deir Al-Balah südwestlich von Gaza-Stadt, dass Menschen, die der Anweisung zur Evakuierung auf »sicheren Routen« nachkommen wollten, von israelischen Scharfschützen unweit des Jarmuk-Stadions beschossen worden seien.

3.

Frankreichs stinkreiche politische Eliten machen Politik gegen das Volk

Am Montag veröffentlichte die französische Transparenzbehörde HATVP… einen Bericht … Das »Studium der Vermögenserklärung« von 34 Mitgliedern der Regierung habe ergeben, dass »mehr als die Hälfte von ihnen Multimillionäre sind«. … Die Repräsentanten des Volkes seien Immobilienbesitzer, Aktionäre, Börsenwetter, auch Erben größerer Vermögen und Profiteure beachtlicher Lebensversicherungen.

4.

Zitat des Tages

»Wir spüren in Litauen die deutsche Führung, und es ist Boris Pistorius.«

Litauens Verteidigungsminister Laurynas Kasciunas freute sich im Gespräch mit Welt (Donnerstag) über den Bundeswehr-Kampfverband in seinem Land.

5.

Nach Mecklenburg genehmigt nun auch Hessen Sonntagsöffnungen von »Smart-Stores«

…»Diese Läden, die nur vorgeben, personallos zu arbeiten, müssen von Beschäftigten am Wochenende beliefert, gewartet, überwacht und gereinigt werden.«

6.

Lateinamerikanische Stimmen zum NATO-Gipfel

Die Erklärungen und Ergebnisse des Gipfels betrachtet die Professorin für Politik und Kultur an der mexikanischen Universidad Autonoma Metropolitana (UAM), Ana Teresa Gutiérrez, zudem als Zeichen für »die Verzweiflung der USA«, die im Ukraine-Krieg trotz aller Hilfe, der Waffen, die mehr als 20 Länder zur Verfügung gestellt haben, und der medialen Unterstützung keinen Erfolg damit haben, Russland zum Aufgeben zu bewegen. Sie habe den Eindruck, dass nicht Regierungen, sondern die »großen transnationalen Konzerne den Kampf führen«, die ihrem Wesen nach »nicht friedlich koexistieren können«.

7.

Alles beim alten im Iran?

Künftiger Präsident Peseschkian kritisiert bisherige Außenpolitik, lässt aber noch keine neue erkennen

… Peseschkian hat versichert, dass er den Anweisungen des »obersten Revolutionsführers« Ali Khamenei folgen wird, der laut Verfassung höchsten religiösen und politischen Autorität der Islamischen Republik.

8.

Sevim Dagdelen, außenpolitische Sprecherin der BSW-Gruppe im Bundestag … erklärte am Freitag anlässlich des NATO-Gipfels in Washington:

Kanzler Olaf Scholz und die Ampel machen mit der willfährigen Zustimmung zu Washingtons Raketenplänen Deutschland zur Zielscheibe. Die Bevölkerung sollte in einer Volksabstimmung darüber entscheiden können, ob sie weitere Angriffswaffen der USA auf deutschem Boden haben will …

9.

EM-Depesche (24)

Wieso bringen die Öffentlich-Rechtlichen gescheite Dokumentationen bloß dann daher, wenn Sportereignisse behandelt werden? Und langen bei zum Beispiel politischen Themen zuverlässig in die Jauchetonne?

Für das Augustheft der Konkret musste ich gerade den Fünfteiler »Angela Merkel – Schicksalsjahre einer Kanzlerin« besprechen. Etwas Dreckigeres, Degoutanteres habe ich mir lange nicht mehr angeschaut. Es war Nervenschändung.

10.

Viel Geschirr

Die Neue Sammlung in der Pinakothek der Moderne in München hat mehr als 300 japanische Keramiken und Lackarbeiten erworben. … Die Kulturstiftung der Länder unterstützte den Ankauf von dem Ehepaar Fred und Gisela Jahn mit rund 264.000 Euro.

11. und 12.

Kritische Anmerkungen zu Carsten Gansels Biographie über die Schriftstellerin Brigitte Reimann

… Nahezu vollständige Ausgaben ihrer Tagebücher waren erst nach der »Wende« möglich und sorgten für die Neuentdeckung der streitbaren und erotisch besessenen Frau, die es in gut 20 Jahren auf vier Ehen und unzählige Affären gebracht hatte. …

Man sollte es kaum für möglich halten, dass eine Lebens- und Werkbeschreibung der aufregenden Brigitte Reimann derart dröge, pedantisch und uninspiriert ausfallen kann. Dennoch hat Gansel dafür gerade den mit 2.500 EUR dotierten Literaturpreis der Annalise-Wagner-Stiftung (Neubrandenburg) erhalten.

13.

Verdi bestreikt mehrere ARD-Sender

Streiks in mehreren ARD-Sendern führen … noch an diesem Freitag zu Programmänderungen, Ausfällen und veränderter Darstellung von Radio- und TV-Sendungen »auch im Ersten«.

14.

Mehr Sexualdelikte gegen Kinder registriert

… Laut Lagebild wurden den Ermittlern im vergangenen Jahr 16.375 Fälle bekannt, in denen Kindern sexualisierte Gewalt angetan wurden – ein Anstieg um 5,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr … Die Anzahl der Sexualdelikte mit minderjährigen Opfern haben sich laut BKA in den vergangenen fünf Jahren insgesamt mehr als verdreifacht.

15.

Keine Verbrecher

… Kürzlich gab es im Fernsehen des Bayrischen Rundfunks einen Beitrag über Fans bei der EM. Eine Polizeibeamtin erläuterte, auf welchen Wegen die Fanmassen aus der Innenstadt zum Stadion gelangen und wie sie dabei von Polizisten überwacht werden. Bitte? Woher weiß die Polizei, wer eine Eintrittskarte hat und wie er sich durch die Stadt bewegt? Die Auflösung: Beim Kauf der Eintrittskarten waren Fans auf eine App der UEFA angewiesen. Sie registrierte nicht bloß die Personal-, sondern auch die Bewegungsdaten des Ticketinhabers …


Sinnlosigkeit macht Angst – Schuldige werden gesucht

Woher kommt der Antisemitismus?


»Denn das Gebot, das ich dir heute gebiete, ist dir nicht verborgen noch zu ferne noch im Himmel, daß du möchtest sagen: Wer will uns in den Himmel fahren und es uns holen, daß wir’s hören und tun? Es ist auch nicht jenseits des Meers, daß du möchtest sagen: Wer will uns über das Meer fahren und es uns holen, daß wir’s hören und tun? Denn es ist das Wort gar nahe bei dir, in deinem Munde und in deinem Herzen, daß du es tust. Siehe, ich habe dir heute vorgelegt das Leben und das Gute, den Tod und das Böse.« 5 Mose 30,11


Einer monotheistischen Religion anzugehören oder nicht an einen Gott zu glauben scheint heute eine normale Entscheidung zu sein. Mal abgesehen davon, dass diese Entscheidung heutzutage ein buntes Spektrum von Zwistigkeiten – um es freundlich zu formulieren – zwischen den Menschen hervorbringt, bestünde tatsächlich die Möglichkeit, die Faust’sche Gretchenfrage 2024 sehr eindeutig zu beantworten. Ich würde sie so beantworten: Nun, nachdem uns durch die Wissenschaft die Möglichkeit gegeben wurde zu erkennen, dass wir Gott nicht verstehen können, sollten wir:

•  aufhören zu glauben, dass uns jemand erzählen kann, dass trotzdem Jahrmarkt im Himmel sei.

•  bekennen, dass unsere Lebensgestaltung, den Gott, den sich jeder persönlich gewünscht hat, getötet hat.

•  im Angesicht der Vergänglichkeit alles dafür tun, dass, was durch Gott symbolisiert wird – u.a. die Erde, mit all dem, was darin kreucht und fleucht –, nicht durch menschliche Aktivitäten noch mehr leiden muss, als es schon muss.

•  wissen, dass diese übermenschliche Aufgabe nicht durch Regierungen, Militärbündnisse, Monopole, Attentate, Erpressung, Korruption und sonstige allzumenschliche Vorstellungen der Besitzstandswahrung bewerkstelligt werden kann. Du und ich allein, so wie der Deuteronomist als Verfasser des 5. Buches Mose es beschrieb, können jederzeit und sofort damit anfangen: zum Beispiel aus Angst vor der eigenen Unterversorgung nicht mit Artgenossen Handel zu treiben, die Kinder arbeiten zu lassen, Frauen zu beschneiden, Kinder zu entführen, Kriege zu führen und mit Waffen zu handeln … Das können Sie dann aber getrost glauben, unser Wohlstand wird sich nivellieren und an der globalen Erwärmung hätte der Mensch dann keine AKTIE mehr.

Der Universalismus schlummert seit Menschengedenken in allen Religionen und Philosophien. Die erste große Lüge begann damit, dass ein Mitverfasser der Genesis, des 1. Buches Mose, schrieb, der Mensch solle sich die Erde untertan machen. Dieser Satz entsprang sicherlich einem schlechten Gewissen, weil man vielleicht für die kriegerische Landnahme die Rechtfertigung eines Gottes brauchte. Diese subjektive Denkungsart hat bis heute nichts an Qualität verloren. Die zweite große Lüge besteht darin, dass wir unsere Bedürfnisse immer besser befriedigen und – was das Gleiche ist – ein gutes Leben haben müssten. Durch alles Denken zieht sich die Ambivalenz, was zu tun sei. Man wird eines Tages erkennen, dass eine von den Menschen erdachte Ethik immer eine sehr fragwürdige Handlungsgrundlage ist, weil wir nicht erkennen, dass wir uns in einem kaum zu durchschauenden Zusammenhang ergehen, sondern meinen, es uns aussuchen zu können.


In den tausend Jahren vor unserer Zeitrechnung war es für das sich formierende israelitische Volk eine historische Meisterleistung, sich von der Vielgötterei der Großreiche zu lösen. Sie waren die ersten in dieser Gegend, die sich von den anstrengenden unterschiedlichen Verantwortlichkeiten der einzelnen Gottheiten für die unterschiedlichen Lebenssphären lösten.

In ihrem Anspruch, sich kein Bild von Gott zu machen oder zu dokumentieren, ich »werde sein, der ich sein werde« oder auch: »Ich bin, der ich bin«(1), greifen die Schriften der Tora weit über die Aufklärung hinaus und bedienen heutige philosophische Überlegungen zu einer naturwissenschaftlichen Kosmologie.

Die Geschichte Israels, als Staat, gehört aber nicht in den Religionsunterricht, sondern in einen wissenschaftlichen Geschichtsunterricht, gerne auch in die Kirchengeschichte an einer freien Universität.

»Um aber die rabbinische Tradition zu verstehen, muss man deren Schriften kennen. Sie gehören hinein in einen Gesamtrahmen, den man im Judentum gewöhnlich die ›mündliche Überlieferung‹ nennt. Diese Bezeichnung umfasst die religiösen und religionsgesetzlichen Traditionen und Vorschriften, die nicht in der seit alters her schriftlich festgelegten Tora enthalten sind. (…) Nach der traditionellen jüdischen Auffassung lief parallel mit der Tora, der Israel am Sinai durch Vermittlung des Moses geoffenbarten Lehre, eine mündliche Interpretation einher, die als ebenfalls göttlichen Ursprungs der Tora in jeder Beziehung gleichwertig zur Seite steht.«(2)

Beide Quellen, die schriftlichen und die mündlichen, sind allgemein anerkannt, was man in Abrede stellt, ist ihr göttlicher Ursprung.

Mit der Entscheidung, auf die Fleischtöpfe des Pharaos zu verzichten und ein selbständiges Volk zu werden, sind die Israeliten in der Vergangenheit nicht nur elitär, sondern auch irgendwie revolutionär. Noah, Abraham, Moses, Elia und all die Gestalten des Alten Testaments stehen mit ihren Geschichten für den Anfang des Traums von einer klassenlosen Gesellschaft. Da wächst – so die Erzählung – über viele Jahrhunderte das nationale Selbstbewusstsein eines Volkes im Raum zwischen Mittelmeer und Persischen Golf.


Monotheismus und die minutiöse Anwendung eines Gesetzeskodex, der dafür sorgt, das Leben des Gottesvolkes bis in die kleinsten Einzelheiten zu regeln, mit immer detaillierteren Ausführungsbestimmungen, schützt aber nicht vor allzumenschlichen Verbindlichkeiten, die sich aus ökonomischen Gesetzen ergeben, die mittlerweile auch keiner mehr in Abrede stellt.

In den schriftlichen und mündlichen israelitischen Tradierungen vor zweitausend Jahren wird rückblickend die Vorgeschichte sehr kritisch dargestellt und als Ungehorsam gegenüber Gottes Geboten gedeutet. Dieser kritischen Distanz verdanken wir es, dass neben der Verherrlichung der Sonderstellung der Israeliten in Abgrenzung zu ihrer Umwelt auch kritische Schriften in der Tora zu finden sind. Dies rührt her von der Ambivalenz zwischen dem israelitischen Sendungsbewusstsein, »Gottes auserwähltes Volk zu sein«, und dem göttlichen Auftrag, durch richtiges Handeln gerecht zu werden. Zumal: »Das rabbinische Judentum sieht die Sendung funktional: Die Aufgabe Israels vollzieht sich auf der Ebene der Menschheit, unter der das jüdische Volk als Kronzeuge der göttlichen Wahrheit wirkt.«(3)

Die Gemeinschaft innerhalb des jüdischen Verständnisses und der Bund mit Gott hat einen hohen Anspruch an das Tun zur Folge. Dieser Tun-Ergehen-Zusammenhang ist nicht explizit im Alten Testament ausgesprochen, eher ist er immer in allen Geschehnissen gegenwärtig.

Im Buch der Könige ist zu lesen: »Und Ahab tat Dinge, die Gott missfielen.«(4) Und es ist durchaus möglich, dass orthodoxe Juden in x Jahren schreiben werden: »Netanjahu tat mehr, den HERRN, den Gott Israels, zu erzürnen, denn alle Könige Israels, die vor ihm gewesen waren.«(5) Aber die orthodoxen Juden tun es leider nicht, zumindest nicht mit politischer Wirkung auf den Staat Israel. Aus ihrem ureigensten Verständnis heraus müssten sie es aber. Dann wären sie antiisraelisch.

Die Kritik an Ahab stammt aus einer Zeit, in der Religion und Staat eins waren. Alles wurde im Lichte der mosaischen Gesetze geplant, durchgeführt und bewertet – ob das die kleinen Schweinereien des Königs waren, sich eines kleinen Weinberges zu bemächtigen, oder die pekuniären Absprachen der jüdischen Elite mit den Babyloniern im Exil und später mit den Römern. Recht und Unrecht wurden im Kontext der Religion reflektiert. Der Vergleich mit Netanjahu wäre bis hierher völlig am rechten Platz, wenn wir die Gesetze Gottes aus dem Alten Testament nach wie vor als Maßstab nehmen würden.


Es sind drei Umstände seit Moses eingetreten, ohne die eine objektive Einschätzung der heutigen israelischen Situation nicht den Ansprüchen genügt, die eine vornehme Seele im Sinne Nietzsches anlegen müsste. Die vornehme Seele ist geleitet von achtungsvoller Scheu und Respekt.

1. Der Anspruch und die Wirklichkeit der jüdischen Religion bekommt es zu Beginn unserer Zeitrechnung mit einer Religionskritik zu tun, die die Menschheit bis heute polarisiert. Jesus zerpflückt den elitären Standesdünkel innerhalb der jüdischen Gemeinschaft und greift das jüdische Establishment an, weil es die eigene Inkonsequenz nicht hinterfragt, die darin besteht, keinen wirklichen Gehorsam zu leisten – wie er sich zum Beispiel so ausdrückt: »Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen; tut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen«(6). Jesu revolutionäre Wichtung eines gerechten und umweltschonenden Gehorsams war nichts für die Juden, die sich mit den damaligen politischen Gegebenheiten arrangiert hatten. Um es gleich klar zu sagen: diese Kritik eines Jesus war auch nichts auf Dauer für die jesuanische Gemeinde nach Jesu Tod. Es war sowieso nicht die Institution Kirche, die die jesuanische Revolution der Gewaltlosigkeit weitergab, sondern wahrscheinlich immer nur ein einzelner Märtyrer oder auch die nie in Erscheinung getretenen Menschen, der sich lieber »kreuzigen« ließen, als zum Beispiel für Kaiser, Volk und Vaterland zu töten oder Granaten zu drehen.

Das Ergebnis war vor zweitausend Jahren eben nicht die Reformierung des jüdischen Gesetzesverständnisses, sondern es blieb bei dem elitären Glauben an die Auserwähltheit des israelitischen Volkes – ein unaufgeregtes Geschichtsverständnis, ganz gleich in welchen Ländern man zu Hause war und ist, keinerlei Bedürfnis, sich durch die Bilder anderer Religionen assimilieren zu lassen, und – was nie vergessen werden darf – »die Juden hatten niemals die Möglichkeit, ihr monotheistisches Konzept den Anhängern anderer Religionen aufzuzwängen, wie es Christen und Muslime dann im allergrößten Ausmaß getan haben.«(7) Das seit Konstantin dem Großen mit der weltlichen Macht verbundene Christentum wollte missionieren, was aber nie der Anspruch des Juden Jesus gewesen war. Er war kein Religionsgründer.

Seit Konstantin bediente sich der Staat mit christlicher Attitüde der Gnade Gottes, um mit allerlei bunten Bildern die Ausbeutung des Menschen und der Natur durch den Menschen zu rechtfertigen. In dieser Rechtfertigung musste es auch Vertreter des Bösen geben, um – nach den Motto »Haltet den Dieb!« – einen Schuldigen für dies und jenes zu finden, was man selbst nicht gebacken bekam.

Der »Jud« war ein gefundenes Opfer. »Durch die Erwählung grenzt sich (bzw. grenzt Gott) Israel aus dem Kreise der Völker aus. Das Gesetz zieht einen hohen Zaun um das erwählte Volk und verhindert jede Kontamination mit oder Assimilation an die Vorstellungen und Bräuche der Umwelt. Zur Selbstabgrenzung bedarf es keiner Gewalt, zumindest keiner Gewalt gegen andere.«(8) Die internen »jüdischen« Auseinandersetzungen in Sachen Gesetzesauslegung und fremde Götter waren sicherlich nicht gewaltfrei, aber für das »Ausland« eher uninteressant.

Während die Juden an sich geneigt waren, ihren schriftlichen verbalinspirierten Gottesworten weder ein Iota(9) zu nehmen noch eines hinzuzusetzen, entwickelte sich aus dem jesuanischen Angebot des Überfliegers und Friedensfürsten Jesus eine gewaltbereite Religion: das Christentum. Vorsehung, Auserwähltheit, Vergebung, Ablass, Missionierung, Vertreibung waren geeignete Mittel, um in der Zeit allumfassend (das bedeutet katholisch) allen Völkern die Botschaft der Vergebung der Sünden durch das Gottesopfer Christi zu verkaufen – und die Mär gleich mit, die Juden seien es gewesen, die die Kreuzigung des Heilands zu verantworten gehabt hätten. Als wäre das typisch, dass nur Juden ihre Märtyrer massakrieren.


Das konnte auch der Reformator Luther nicht geradebiegen. Das jüdische Gebot der Bildlosigkeit konnte er nicht wiederherstellen. Er brach zwar die Überheblichkeit des katholischen Klerus, aber auch er scheiterte an dem jesuanischen Anspruch, sich eher kreuzigen zu lassen als ein Reich des Schwertes zu akzeptieren.

Die Liste der christlichen Konfessionen seither war nicht lang, nein, sie ist noch lang. – Inhomogener kann eine Religion nicht sein, wie es die christliche ist. Wer selbst Teil einer solchen Gemeinschaft war oder ist, weiß, wie schwer die Überwindung der Grenzen zwischen den individuellen Gottesbildern der Menschen ist. Wie schwer man sich tut, die Grenzen auszuloten, was man in der Welt noch mitmachen kann und was nicht.

Dem größten Teil der Christen geht es ab, zu akzeptieren, dass es wirklich etwas sehr Grundlegendes in der Tora gibt, das darin besteht, unsere Grenzen auf diesem Planeten aufzuzeigen. Dabei sind Verbote, Gebote und Regeln Möglichkeiten, sich vorsichtig einem Gesamtzusammenhang zu nähern, den dem Universum abzuringen wir gerade erst begonnen haben. Diese Annährung muss in einer Atmosphäre von Vertrauen und gegenseitiger Wertschätzung erfolgen, immer in der Gewissheit, dass wir Teil der Schöpfung sind. Wenn die jüdische Gemeinde Jesus nicht verstanden hat, dann waren die historischen Bedingungen für einen Überflieger noch nicht reif. Aber heute sind sie überreif.


Der jüdische Monotheismus wollte von Anfang an Grenzen zu den anderen Religionen. Das Gesetz war eine Mauer um das auserwählte Volk. Das Selbstverständnis definierte sich über das von Gott gegebene Gesetz. Und dieses Gesetz zu verehren können Sie anderen Völker nur anbieten, wenn Sie selbst diesem Anspruch gerecht werden. Das Volk Israel, als Glaubensgemeinschaft, hat vielleicht sogar eine avantgardistische Rolle im Abendland, aber beim Studium anderer großer Hochkulturen stellen wir zumindest auch bei anderen gleichwertig Universelles fest. Dem aufgeklärten Hindu zum Beispiel und vor allem dem Neo- Hinduisten brauchen Sie nicht mit theologischen Spitzfindigkeiten zu kommen, der assimiliert sie alle gleich mit, nachdem er sie mit der Grimm’schen Begrüßung: »Ick bün all hier« in ihre Grenzen gewiesen hat.

Keiner der abrahamitischen Religionen ist es bisher gelungen, sich aus der Verquickung von universellem Anspruch und zeitgeistiger Überheblichkeit zu lösen. Die Inkonsequenz in Sachen Gehorsam macht die abrahamitischen Religionen so interessant für allzumenschliche Theologien, die Pflichten und Grenzen beliebig verschieben, wie es gerade politisch und vor allem wirtschaftlich nützlich ist. Jeder gläubige Jude, der sich nicht den Machtansprüchen eines Ahab oder Netanjahu widersetzt – wohlgemerkt: erst mal nur als gläubiger Jude –, wird dem Anspruch der Tora nicht gerecht. Ein Christ hat immer noch eine Hintertür: die Vergebung durch Gottes Gnade – meint er zumindest.


2. Die Trennung von Kirche und Staat – Als die Aufklärung, die Religionskritik und die kapitalistische Produktionsweise das Licht der Welt erblickten, wurde die Allianz von weltlicher Macht und scheinheiligem Gehorsam in allen Religionen sichtbar und zunehmend natürlich erklärlich. Die vermeintliche Freiheit des Menschen brauchte keine Begründung religiöser Art und dann noch in einer immer widersprüchlicher werdenden Allianz von Institutionen des gesellschaftlichen Lebens und dem Klerus und seinen geistlichen Würdenträgern.

Was nützt und Freude bereitet, muss produziert, gehandelt, verkauft und vor allem konsumiert werden. Gott ist Sonntag oder hängt als Bild an der Wand. 1871 prägte der spätere Friedensnobelpreisträger Ferdinand Buisson das religionsverfassungsrechtliche Modell des Laizismus, dem das strenge Prinzip der Trennung von Religion und Staat zugrunde liegt.

Ich erlaube mir dieses Ereignis im Verhältnis zu anderen, vielleicht wesentlich wichtigeren historischen Ereignissen hier hervorzuheben, um zu zeigen, dass irgendwann klar wurde, dass mit dem Streit um Gottesbeweise, Glaubensbekenntnisse, Pfründe und die Höhe der Kirchensteuern keine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse herbeizuführen ist. Um die neuen Produktivkräfte, die Wissenschaft und Technik vorantreiben sollten, nicht zu behindern, musste das Bildungsmonopol der Priester und Pfarrer eingeschränkt werden.

Ob sie nun beschnitten, getauft oder geweiht sind, es wäre enorm wichtig, dass dieser Kultus keine trennende Lebensweise mehr symbolisiert. Genauso ist es völlig inakzeptabel, theologische Themen mit der Tagespolitik zu verbinden.

Verbalinspiration, Schöpfungsmythen und göttliche Offenbarungen tragen immer zu einem verklärten oder mystischen Erlebnishorizont bei. Zwei völlig verschiedene Wertesystem prallen aufeinander und werden zu einer politischen und populistischen Kakophonie (Chaos statt Musik). Das Hauptproblem dabei ist die Verlagerung der Lösung unserer Probleme in eine andre Welt oder in eine andre Zeit.


Gott wird wieder salonfähig, nicht weil wieder alle an Gott glauben würden, sondern weil der Tanz ums Goldene Kalb(10) unsere täglichen Lebensabläufe so stark beeinflusst, dass es dafür keine kurzfristigen, abrufbereiten naturwissenschaftlichen Begründungen gibt. Die Flucht ins Übersinnliche scheint die schnelle Abhilfe für die Sorge um den nächsten Tag bereitzustellen. Multikulti ist nicht unser Problem. Das populistische Durcheinander, die Wiederaufbereitung alter Ideologien, pietistisches Gedöns und haarsträubende Verschwörungstheorien scheinen der Wirtschaft nur zu willkommen zu sein. Man hört sie regelrecht rufen: »Macht und glaubt alles, was ihr wollt, Hauptsache ihr lasst uns weiter akkumulieren, profitieren und konsumieren.« Und alles, was zu kassieren oder zu archivieren wert war, buddeln Heerscharen von Unternehmerverbänden, Medienkonzernen, Thinktanks, Stiftungen, Instituten wie die Bertelsmann Stiftung, Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft GmbH, Institut Solidarische Moderne e.V., Correktiv oder auch die Bildungsstätte Anne Frank wieder aus, um den Kapitalismus vor den Kritikern zu schützen und um ihre hochdotierten, völlig nutzlosen Stellen zu sichern. Mit vermeintlich wissenschaftlichem Anstrich reden sie den faulenden Kapitalismus schön.

Überall ist der liebe Gott wieder mit dabei. In den Schulen gleich dreifach: an der Wand des Klassenzimmers, um den ANDEREN zu zeigen, wo der Hammer hängt, im Biologieunterricht, wo man auch nicht vergessen soll, dass es neben der Evolution eine noch viel schönere und viel einfachere Schöpfungsgeschichte gibt, und im Religionsunterricht als formeller Akt der gebetsmühlenartig Wiederholung der Geschichten der Gottesbilder, um wiederum neue Bilder zu malen, die dem angepassten Mainstream der Gesellschaftswissenschaften entsprechen. Das Ganze von eifernden Eltern und Gutmenschen überwacht.


3. Ein Duales Weltbild wirkt heute toxisch – Ob etwas wirklich revolutionär für unsere Lebensweise ist, zeigt sich in seiner Nachhaltigkeit für das gesamte natürliche Gleichgewicht. Das Erste(11) wie auch das Zweite Testament sind im Wesen zweigeteilt (siehe oben). Diesen Blick kann ich aber nur haben, wenn ich beide Quellen als Offenbarungen eines Gottes ablehne. Dann reißt der Vorhang in jedem Gotteshaus dieser Welt. Trenne ich nicht den universellen von dem mir subjektiv vermittelten Anspruch, dann besteht die Gefahr von Bewusstseinsstörungen, die eindeutig ihre Ursachen in einem inhomogenen Weltbild haben, weil ich mich im Kreise drehe und nicht mehr weiß, was zu tun ist.

In dieser Dialektik zwischen dem Gehorsam gegenüber einer neutralen, universellen, friedlichen Macht und der Konsequenz, auf individuelle Macht gegenüber dem Anderen zu verzichten, liegt der Heilungsansatz für heute.


Beide Stimmen sind im Ersten Testament und vor allem auch in den fünf Büchern Mose, die die Tora bilden, miteinander verwoben. Die Stimmen, die dort zu Wort kommen, wie die Elia-Geschichten inmitten der martialischen Königsbücher, verkünden Umkehr und Vertrauen. Und ja, die Zerstörung des Tempels der Juden war aus der Sicht der im Exil sitzenden Schreiber nicht die Schuld aggressiver Großmächte, sondern es war die Strafe Gottes für den Ungehorsam des »Hauses« Israel.

Tun und Strafe waren eine Einheit. Neubabylonier und Römer waren Erfüllungsgehilfen Gottes. Es machte Sinn, aber gebar keinen Hass und keine Gewalt. Der Gott der Verlierer war stärker als der Gott der Gewinner. Das war für die »Welt« neu. War das der Anfang der Unbeliebtheit der Juden, wegen ihres selbstsicheren Sinnverständnisses von ihrem Leben mit Gott?

Der Tun-Ergehen-Zusammenhang ist noch da, aber nicht mehr als kausaler Zusammenhang von Schuld und Ungehorsam.

Die Militärs und deren politische Unterhändler werden heute nicht müde zu betonen, dass keiner Krieg will, aber wir müssen doch unsere Werte, unser Volk und unseren persönlichen Gott (und wenn das nur unser Auto ist) verteidigen. So reden sie ohne Sinn und Verstand unsere Kinder in den Krieg. Der Hohepriester hätte seinerzeit gut daran getan, sich der von Jesus vorgebrachten Kritik anzuschließen. Die Zeit war damals schon reif, nicht für Reformen, sondern für das Grundsätzlichste.


Was muss sich ändern? – Als erstes müssen die ran, die meinen, sie sind ganz nah bei Gott.

Die orthodoxen Juden sollten nicht kleine Zettel mit Wünschen in die Nordmauer des zerstörten Tempels drücken, sondern ihre Quasten, Gebetskapseln und Tora-Rollen der Knesset auf den Tisch knallen und sich aller staatlichen Ämter entledigen, solange die Palästinenser nicht mit im Raum sitzen und gemeinsam mit den Israelis EIN Land regieren.

Heute muss jeder Christ konvertieren: Entweder er lässt sich beschneiden, wenn er gar nicht ohne Gott auskommen kann, und nimmt das Zweite Testament zu den Gebetskapselträgern mit und versucht ihnen die Gehorsamsethik von Jesus zu erklären und sich für den halbherzigen messianischen Versuch eines Christus zu entschuldigen.

Oder Jude und Christ werden historische Materialisten und überwinden die Selbstversuche, sich auf Kosten anderer ein schönes Leben zu machen.

Als zweites müssen die ran, die denken, sie brauchten keinen Gott.

Es wäre illusorisch zu glauben, dass die Reichen hingehen und ihren Besitz mit den Armen teilen. Die Zeit ist noch lange nicht bereit, die jesuanische Botschaft des Gewaltverzichts und des Gehorsams gegenüber einem universellen, von der Schöpfung vorgegebenen Zusammenhang umzusetzen und auszuhalten. Die Not wird für die Überlebenden Einsicht bringen – für die im Exil, wenn sie noch Papier und Stift finden; für die Gefallenen kommt natürlich jede Einsicht zu spät.

Aber was jetzt gleich möglich wäre: Hört auf, den Schwachsinn, den wir seit Tausenden von Jahren verzapft haben, einer künstlichen Intelligenz zu überlassen. Es wird die Welt in eine Wüste der Verantwortungslosigkeit verwandeln, bei der am Ende keiner mehr weiß, was er tun soll, außer vielleicht zu kiffen. Die Juden würden ihr Stigma nicht mehr los, obwohl sie die bildlosesten unter den Gläubigen waren und sind. Aber auch als religiöse Menschen sind sie wie alle anderen einfach nur Bürger eines Staates. Und genau hier müssen sie sich entscheiden.


Lutz Richter

6.5.2024


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1     2 Mose 3,14.

2     Kurt Hruby: Aufsätze zum nachbiblischen Judentum und zum jüdischen Erbe der frühen Kirchen. Berlin 1996, S.21.

3     Siehe Hruby: Aufsätze, S.57.

4     1 Kön 16,30. Ahab war von etwa 873 bis 852 v.Chr. König des Nordreiches Israel, während im Süden das Königreich Juda lag.

5     In Anlehnung an 1 Kön 21,25 u.a.

6     Matthäus 5,44.

7     Rolf Rendtorff: Ägypten und die »Mosaische Unterscheidung«. In: Jan Assmann: Die Mosaische Unterscheidung. Oder der Preis des Monotheismus. München 2003, S.193–208, hier S.206.

8     Assmann: Mosaische Unterscheidung, S.31.

9     5 Mose 4,2: »Ihr sollt nichts dazutun zu dem, was ich euch gebiete, und sollt auch nichts davontun, auf daß ihr bewahren möget die Gebote des HERRN, eures Gottes, die ich euch gebiete.«

10   Das Goldene Kalb, wörtlich der »goldene Stier«, war im 2. Buch Mose ein Kultbild des Götzendienstes, also ein Symbol für den Ungehorsam gegenüber JHWH. Wir müssten heute schreiben: Wallstreet Bulle oder Bär der Börse in Frankfurt.

11   Es ist die Überheblichkeit des angelsächsischen christlichen Religionsverständnisses zum Alten Testament, diese Bezeichnung alt und neu zu wählen. Es war nicht das Nacheinander, sondern das machtpolitische theologische Kalkül gegenüber einer »fremden Religion«. So ging lange Zeit verloren, dass Jesus kein Religionsgründer war, sondern lediglich ein zeitgenössischer Kritiker am Glauben der Väter und an dem der Staatsmacht. Darum schließe ich mich der modernen Religionskritik an und spreche vom Ersten und Zweiten Testament.

Buchtipp

Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull von Thomas Mann

(Ein offener Brief an die Neue Generation XYZ)


Liebe Kinder der psychologischen Resilienz,

ich werde genau 633 Wörter dafür verwenden, um dieses Buch Eurem freiheitlichen Geist zu empfehlen.

Thomas Mann war kritischer Realist. Er, der den konkreten Menschen in seiner speziellen Situation psychologisch durchdrang und dabei die Umstandsbestimmungen der Zeit, in der seine Protagonisten leben, beleuchtete, könnte auch für Euch von Interesse sein.


Drei Wünsche verbinden sich mit diesem Buchtipp:

  1. (gratis: Selbstüberwindung)

Versucht, dieses Buch bald, zügig und mit aller Konsequenz von Anfang bis Ende zu lesen. Sucht keine Abkürzung im Netz und überspringt nichts. Wenn Euch das gelingt, verspreche ich Euch ein Gefühl der Genugtuung und der Dankbarkeit nach getaner Lektüre. Dieses Gefühl, etwas zu Ende gebracht zu haben, wäre ein natürliches Geschenk am Rande der erfreulichen Gelegenheit, nach und nach den Inhalt des Buches erschließen zu können.


  2. (intern: Der große Zusammenhang)

Warum nun aber dieses Buch? Ihr seid die Kinder meiner Freunde und Eure holprige Vita bis hierher war und ist Gegenstand unserer gemeinsamen Sorgen um Euch. Wir haben Euch gleichermaßen vernachlässigt. Alexander, Konstantin, Johannes, Daniel und Elisabeth sind nicht automatisch Leidtragende der Erziehung, aber eben Kinder ihrer Eltern. Kinder von Müttern und Vätern, die versucht haben, im Schatten einer imperialen Wirtschaftswachstumsglorifizierung dem System ein Stück Wohlstand abzuringen. Nebenbei bemerkt, im Angesicht unseres nun schütteren Haares und unserer faltenreichen Gesichter ein völlig blödsinniges Unterfangen.

Thomas Mann bildet solche Abhängigkeiten ab, indem er Felix’ Abhängigkeiten von Vater und Mutter und sonstigen Verantwortlichen zeigt. Die eigenen Abhängigkeiten und die Quellen des eigenen Tuns zu kennen und diese zu verstehen, wäre mein zweiter Wunsch, der aber auch erst in Erfüllung geht, wenn Ihr die Wechselwirkung von Inhalt, Sprache und Form bei Thomas Mann verstanden habt.


  3. (extern: Die Profession)

Wo Ihr euren Platz im Leben findet, ist mir im Grunde gleich. Solltet Ihr Euch aber für ein Leben nach der Art von Felix’ Dasein entscheiden, dann kommt Ihr nicht umhin, die gesellschaftlichen Zusammenhänge zu studieren und zu verstehen, damit Ihr Euch darin erfolgversprechend bewegen könnt.


Hochstapler, Heiratsschwindler und Politiker sind elegant, riechen gut und sehen gepflegt aus (ausgenommen Herr Hofreiter). Sie fallen durch ihre noblen Umgangsformen auf, damit sie gegrüßt werden. Ihre Autos sind verkehrssicher. Die persönlichen Sachen, der Besitz, ihr ganzes Zeug wirkt grundsolide. Es hat sich nichts geändert an Gottfried Kellers Kleider machen Leute oder an den festen Grundsätzen eines Narzissten: »Mehr Schein als Sein«.

Um an das Geld anderer Leute zu heranzukommen, bedarf es neben der gepflegten Schlitzohrigkeit einer gewissen Fachlichkeit in Sachen leben und leben lassen. Dass Ihr kein Geheimnis daraus macht, Millionär sein zu wollen, macht Euch durchaus nicht unsympathisch. Es wäre verlogen, hier den moralischen Zeigefinger zu heben. Dazu sind wir hier täglich alle viel zu sehr mit dem schnöden Mammon unterwegs.


Gesetzt den Fall, Ihr lest dieses Buch nicht und Ihr versteht deshalb nicht, warum Ihr so seid, wie Ihr seid, dann solltet Ihr mit einer Ausbildung zum Mafioso anfangen. Das ist eine große Familie, die sich rührend um Euch kümmert, die Euch tragen, fördern, aber auch die Finger abschneiden kann, wenn Ihr dummes Zeug redet – eine erzieherische Maßnahme, die das Wort »schutzbefohlen« völlig neu definiert.

Dann solltet Ihr Euch aber auch von uns Idioten des frühen Aufstehens, von den nicht in den Ruhestand gehenden Trotteln, den Häuslebauern und den ewig malochenden Tischlern, Ärzten, Krankenschwestern und Köchen trennen. Ihr müsst dann Euer Ränzlein schnüren und in die weite Welt ziehen, ohne uns zu sagen, wohin Ihr geht.


Dreht Euch nicht nach Mutter und Vater um. Ruft uns um Himmels willen nicht an. Überrascht uns damit, von Euch aus den sozialen Medien zu hören als:

•   ein Keanu Reeves aus dem Film Anwalt des Teufels,

•   ein Leonardo DiCaprio, als Scheckbetrüger aus dem Film Catch Me If You Can, oder

•   – und das wäre natürlich absolut geil – als Politikerin oder Politiker (Partei ist egal) von der Art eines Donald Trump.


Wir haben Euch lieb, möchten Euch aber bitten, dass Ihr Euch schnell entscheidet, wir müssen zur Arbeit.


Lutz Richter


11.04.2024

»Wurzeln der Gewalt«

Diese Überschrift trägt ein Artikel in der Jungen Welt vom 2./3. März 2024, verfasst von Karl-Heinz Dellwo, ehemals Mitglied der RAF. Der Untertitel lautet: »Politische Betrachtungen zur Verhaftung von Daniela Klette«. Ich möchte hier einen Auszug aus diesem bedenkenswerten Artikel vorstellen. Dellwo fragt:

„War die RAF wirklich die gewalttätigste Gruppe, die aus der 68er Bewegung hervorgegangen ist? Ich habe erhebliche Zweifel daran. Personen wie Joseph Fischer, die in den 70er Jahren noch die Parole ›Werft die Knarren weg, nehmt Steine‹ ausgaben, haben, kaum waren sie in der Machtpositionen gelangt, ihre inhärente Gewaltbereitschaft staatlich ausgelebt, nicht zuletzt im völkerrechtswidrigen Krieg gegen Jugoslawien. Wer heute dem grünen Munitionsexperten Anton Hofreiter oder Marieluise Beck und ihrem Ehemann, dem einst der ›Vernichtung des Kapitals‹ verpflichteten KBW-Funktionär Ralf Fücks, zuhört, steht entsetzt vor einer maßlosen Gewaltbereitschaft und Kriegshetze, die irgendwann niemand mehr im Griff haben wird – und die zu einer erneuten Zerstörung Europas führen kann.

(…)

Ich möchte auf einen weiteren fundamentalen Unterschied hinweisen: Die RAF hat sich gegen das imperiale System des Kapitalismus gestellt. Ein relevanter Teil der Nachkriegs- und Enkelgeneration tritt heute mit aller Gewalt für den Fortbestand genau dieses Kapitalismus ein. Von dessen ›wertebasierter Liberalität‹ glaubt sie sich moralisch legitimiert, konkurrierende Kapitalismen wegzufegen, weil die Konkurrenten nicht ›liberal‹, sondern ›autoritär‹ seien. Als wären sie nicht den gleichen Marktgesetzen unterworfen. Dabei liegt die ›Liberalität‹ des Westens unterm Strich nur im Zubilligen kostenloser Freiheiten, die so lange gültig sind, wie eine Prämisse immer unangetastet bleibt: die Unterwerfung unter das Prinzip der Verwertung von Mensch und Natur.«

Richtig, aber meine Deutschlehrerin hätte gesagt, das ist nur kritischer Realismus, er zeigt den Missstand auf, sagt aber nicht, wie wir Änderungen herbeiführen können.

Die Natur will Lösungen – die Überwindung der Gewalt

In einer Gesellschaft, die sich als humanistisch versteht, ist der Umgang mit Gewalt im Rahmen der Exekutive immer ein schwieriges Unterfangen. Die Gewaltanwendung gegen Terroristen, die Menschen zu Tode gebracht haben, lässt sich sicherlich leichter rechtfertigen als der zivile Ungehorsam eines auf der Straße sitzenden Studenten.

Ganz schlimm aber wird es, wenn Krieg ist wie jetzt.

Es scheint von vornherein derjenige humanistischer zu sein, der nicht mit der Gewalt angefangen hat. Es scheint vernünftig zu sein, sich zu wehren, indem man auch Gewalt anwendet.

Wieder steht die Welt vor der jesuanischen Entscheidung, das Gesetz von Auge um Auge, Zahn um Zahn zu verwerfen, um lieber die andere Wange hinzuhalten respektive sich kreuzigen zu lassen.

Die Ursachen für alle menschlichen Zwistigkeiten sind viel zu komplex, als dass man sie auf das märchenhafte »die Guten und die Bösen« reduzieren könnte. Es trennen die Kriegsparteien nicht die Produktionsweisen, nicht die Eigentumsverhältnisse und nicht die Gleichgültigkeit, mit den Gegnern Handel zu treiben.

Alle verlangen sie nach dem guten Leben, und darum gründet die Rechtfertigung dieser gesellschaftlichen Verhältnisse immer auf Werte, die unser Leben auf diesem Planeten nicht friedlicher, nicht gleichberechtigter und nicht psychisch nachhaltiger machen würden.

Es trennen die Mächte ein paar durchgedrehte Narzissten, reiche Egomanen und ignorante Dummschwätzer. Aber die bringt man doch nicht um, sondern lässt sie in ihrer Überheblichkeit à la Pilatus einfach in der Sonne stehen und verzichtet auf seine Fleischtöpfe und die Oberflächlichkeit seines Entertainments (althergebracht: Brot und Spiele). 

Die Bewertung krimineller, terroristischer und kriegerischer Konflikte bedarf eines natürlichen Standpunktes, den nur der einnehmen kann, der dem Bösen nicht widerstrebt: »Ich begriff jetzt, daß Christus in dem Grundsatz des Nichtwiderstrebens nicht nur ausspricht, welche Konsequenz unmittelbar für den einzelnen daraus erwächst, dem Bösen nicht zu widerstreben, sondern daß er, im Gegensatz zu jenem Gesetze, welchem sich, nach Moses und dem römischen Rechte, das Volk zu seiner Zeit unterwarf, und nach welchem, auf Grund verschiedener Gesetzbücher, auch jetzt die Menschheit lebt, den Grundsatz des Nichtwiderstrebens aufstellt, – einen Grundsatz, der, nach seiner Lehre, die Grundlage des Zusammenlebens der Menschen sein und die Menschheit von dem Übel befreien soll, das sie sich selbst bereitet hat. Er sagt: Ihr glaubt, daß eure Gesetze das Übel verbessern; sie aber steigern es nur. Es gibt nur einen Weg, das Übel zu verhindern, – der ist: Böses mit Gutem zu vergelten, allen ohne Unterschied.«(1)

Lachen Sie nicht – schlafen Sie drüber. Lesen Sie Eugen Drewermann! »Die Frage stellt sich von vornherein, was man will: will man die ›Welt‹, wie sie ist, kontinuierlich weiterverwalten, dann spielt die Pflege und Wahrung des Rechts ein zentrale Rolle; was aber, wenn gerade diese bestehende ›Welt‹ selbst mit ihren ›Einrichtungen‹ und ›Ordnungen‹ sich als das Unerträgliche, – als das Erlösungsbedürftige erweist? Was, wenn man im Interesse der Menschlichkeit die Diskontinuität, den Zerbruch des Vorgegebenen geradewegs wünschen muß?«(2)

Papst Franziskus hatte im Februar/März dieses Jahres die Chance, das Jesuanische am Christlichen zu retten. So wie Anthony Quinn in der Rolle des Papstes in dem amerikanischen Film »In den Schuhen des Fischers« aus dem Jahr 1968, der alles verkaufte, was der Vatikan so hergab, um die Armen und Hungrigen der Welt zu retten, inklusive Sowjets und Chinesen.

Die weiße Fahne wäre des Fischers würdig gewesen.


18.03.2024


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1   Leo N. Tolstoi: Mein Glaube. München 1990, S. 62–63.

2   Eugen Drewermann: Jesus von Nazareth. Befreiung zum Frieden. Band 2. Glauben in Freiheit. Zürich/Düsseldorf. 4. Auflage 1998, S. 328.

Julian Assange, Alexei Anatoljewitsch Nawalny, Jamal Khashoggi …

Wer das kapitalistische System beim Töten erwischt, bekommt 175 Jahre Haft. Wer den Despoten beim Diktatorialsein entlarvt, wird gemeuchelt. Wer den Scheich beim Falsch-Zeugnis-Reden erwischt, wird zerstückelt …


Ist uns klar, was da passiert?

Das Schlimmste, was man machen kann, besteht darin, beim Beurteilen der Fälle zu verallgemeinern.

Die Rechtfertigungen der Täter sind ein riesiges Theater. Heerscharen von Staatsdienern, Medienmitarbeitern und sonstigen gekauften Akteuren der politischen Propaganda sind angetreten, um aus Mord Verteidigung zu postulieren. Aus den knallharten Fakten des Tötens, der Korruption, des Genozids, der Kriegstreiberei und der sonstigen Verstöße gegen die Natur des Lebens werden notwendige Mittel, um die Werte des Westens oder eine Religion zu verteidigen.

Die aufklärende Seite bekommt dagegen keine staatlichen Fördermittel, muss sich verstecken oder lebt in ständiger Angst.

Diesem anthropozänen Drama auf die Schliche zu kommen, bedarf es der investigativen Journalisten, unbestechlicher Richter und Professoren der freien Universitäten, die sich mit ihrem Grundlagenwissen im Allgemeinen wie im Konkreten der Aufklärung zur Verfügung stellen.

Und da waren sie wieder, meine drei Probleme: Bekennen, Umkehr und Verzicht – der postdemokratische Weg in die natürlichen Gefilde der Wahrhaftigkeit.

Ich verneige mich vor denen, die sich eher kreuzigen lassen, als in diesem verbrämten und verlogenen Schauspiel mitzuwirken.


P.S.

… Wir werden die USA um militärischen Schutz anbetteln, ganz gleich, welcher Greis oder Lumpenhund an der Macht ist. Wir liefern weiterhin Waren nach Russland und kaufen dort ein. Den Turbanträgern schütteln wir die Hände, um im Winter nicht zu frieren. 

21.02.2024


„Jenseits der medialen Wahrnehmung“

„Die ZDF-Dokumentationsreihe ‚Schattenwelten‘ zeigt in fünf Folgen Entwicklungen und Strukturen auf, die es selten bis in die Nachrichten schaffen. Und häufig werden die einzelnen News nicht miteinander verknüpft, sodass die Bedrohungen für Staaten und Gesellschaften weiter im Schatten bleiben. Von Cyberwar, Organisierter Kriminalität bis Propagandaschlachten: Unter der Oberfläche der medialen Wahrnehmung gibt es eine ganz andere Realität.“ (1)

Sollten Sie die Dokumentationen von „Schattenwelten“ im ZDF nicht gesehen haben oder auch nicht sehen wollen, dann jammern Sie nicht herum, wenn Ihre Welt der Planung von Kind, Einnahmen, Ausgaben, Urlaub und der Partei, die Sie demnächst wählen wollen, in sich zusammenfällt.

Ich will hier nicht den Inhalt dieser Dokumentationen rezensieren, das kann man nicht, denn was dort gesagt und gezeigt wird, ist schon die Essenz zum Thema „Es ist lange nach zwölf“.

Wenn wir diese Realitäten nicht in unsere Entscheidungsfindungen einbinden, wird unser Handeln unter Garantie falsch sein. Ein Beispiel:

Ilan Pappé, Professor an der Universität Exeter und Autor, beklagt das Desinteresse an historischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen; ein solches Interesse wäre aber dringend erforderlich, um den Nahostkonflikt richtig aufarbeiten zu können. Ein Fachwissen wie seines, eine solche Objektivität ist eine notwendige Bedingung, um überhaupt an einer Lösung arbeiten zu können.

„Wenn man den Gazastreifen erwähnte, wenn man über die Belagerung des Gazastreifens sprach, sagten die Leute wieder: ‚Wovon redest du? Das ist doch auch ein Thema, das niemanden mehr stört.‘ Und sie wurden auf die tägliche Tötung von Palästinensern im letzten Jahr – sagen wir, in den letzten zwei Jahren – hingewiesen, auf die tägliche Tötung von Palästinensern im Westjordanland, und darauf, dass die schwache Palästinensische Autonomiebehörde nicht in der Lage ist, die Palästinenser vor der Gewalt der Siedler, der israelischen Armee und der israelischen Grenzpolizei zu schützen, nicht bedeutet, dass es keine palästinensische Gruppen gibt, die versuchen werden, die Palästinenser zu verteidigen, nicht nur im Gazastreifen, sondern auch in anderen Teilen des historischen Palästina. Das wurde der israelischen Öffentlichkeit, den politischen Entscheidungsträgern und den Chefs des israelischen Militärs und Geheimdienstes immer wieder gesagt. Aber sie sagten: ‚Nein, es gibt kein Problem. Das einzige Problem ist die Gesetzesreform, ob wir sie nun akzeptieren oder nicht.‘

[…]

Und wissen Sie, im Pantheon des antikolonialen Kampfes, in das viele Menschen viele Helden von Nelson Mandela über Gandhi bis hin zu anderen wichtigen Führern der Befreiungsbewegungen aufnehmen würden, werden Sie keinen einzigen Palästinenser finden. Sie werden immer als Terroristen behandelt, obwohl sie im Grunde genommen auch eine antikolonialistische Bewegung waren.

Und diese Art von Beharrlichkeit, die richtige Sprache zu verwenden, die Geschichte des Ortes zu kennen und die richtige Analyse zu haben, ist etwas […], wofür man Raum braucht. Man kann nicht einfach kommen und sagen: ‚Du hast Unrecht und ich habe Recht.‘ Und das ist eine große Herausforderung für uns alle, denke ich […].“ (2)

So Pappé am 19. Oktober 2023 in einem Vortrag an der University of California, Berkeley.


Was hat das mit der ZDF-Dokumentation „Schattenwelten“ zu tun?

Ganz einfach! Diese Informationen brauchen Sie, um am Leben so teilnehmen können, dass Sie in der Lage sind, gesellschaftliche Verwerfungen objektiv beurteilen zu können und sich nicht mit der Floskel „Wovon redest du? Das ist doch kein Thema, das interessiert doch niemanden“ ablenken zu lassen.

„Am Ende des Tages geht es immer um Plausibilität. Der kleine Geist schläft besser, wenn er das, was er sicher weiß, und das, was er so gar nicht im Griff zu haben scheint, irgendwie zusammenbringen kann. Die Kunst, die Dichtung, das Theater, die Dramen, die Erzählungen, die Dialoge, die Evangelien ‒ alle miteinander Prophylaxe für einen gesunden Schlaf. Kontemplation und Ablenkung mit dem einen Ziel, an dem Tohuwabohu nicht verrückt zu werden. Die Aussicht auf die Gnade der Vergebung unseres Ungehorsams gegenüber der Natur am Ende unseres Lebens ist sicherlich ein gutes Schlafmittel für den Einzelnen, für die Arterhaltung hat es jedoch nicht den geringsten Nutzen.

Zu viel wurde geredet, zu wenig hat man sich mit den Zusammenhängen beschäftigt. Das geschriebene und gesprochene Wort verliert an Haltbarkeit, die Schnelllebigkeit der Zeit zermalmt die notwendigen Prüfungen der Ereignisse, die Pluralität der Meinungsäußerungen übertönt das, was wichtig wäre. Empfänger und Sender entscheiden selbständig und eigennützig über das, was man weglässt. Das Weglassen auf der Seite des Wissens ist Lüge. Das ist der verhängnisvollste Grund für die Unwahrheit: das bewusste Weglassen neuer oder besserer Erkenntnisse, falsch Zeugnis reden und sich etwas zusammenreimen, weil es von größerem politischen und ökonomischen Nutzen ist. Es ist der ökonomische Mensch, der lügt. Das Anthropozän, wenn ich diese Epoche der Eitelkeiten so nennen will, ist das Zeitalter der Lügen.“ (3)

01.02.2024



1           https://www.zdf.de/dokumentation/zdfinfo-doku/schattenwelten-auf-den-schlachtfeldern-der-zukunft-100.html#skiplinks (gelesen am 01.02.2024).

2          Ilan Pappé: Krise des Zionismus, Chance für Palästina? (Vortrag. Übersetzt von Andreas Mylaeus) In: Marxistische Blätter Jg. 62 (2024), Heft 1, Beilage, S. 3–5. Der Vortrag ist auch zu finden unter: https://seniora.org/wunsch-nach-frieden/der-wunsch-nach-frieden/professor-ilan-pappe-krise-des-zionismus-chance-fuer-palaestina (aufgerufen am 02.02.2024).

3           Lutz Richter: In Asymmetrie zur Schöpfung, S. 97.

Ein Requiem für die Bauern


Der Verzicht auf die Moral kann mit gutem Gewissen geschehen, weil alle Moralvorstellungen, die ihren Ursprung in unserem Denken haben, keine wirkliche Hilfe für das Verstehen und Gestalten unseres Daseins sind. Diese zutiefst materialistische Erkenntnis konnte aber erst gewonnen werden, als man merkte, dass die Autoritäten, die die Moral einforderten, weil sie die Ansicht vertraten, das Denken prädestiniere sie für diese Aufgabe, sich im Grunde lächerlich machten.

Kein Grund zur Häme. Wir alle sind Gesellen des kurzsichtigen Irrtums. Wer ohne Dummheiten im Leben war, der werfe den ersten Stein.

Aber nun sind die Bauern auch mal dran. Wäre ich einer, hätte ich mich, um mir nicht den Zorn meiner Grundstücksnachbarn zuzuziehen, der Herde – Entschuldigung –, dem Konvoi nach Berlin sicher angeschlossen.

Woher wissen die eigentlich, dass die Feinde des Guten Lebens in Berlin sitzen? Hätten sie Marx gelesen und Rosa Luxemburg verstanden, wüssten sie, dass wir alle Teil einer ausgeklügelten Verbrauchsinsolvenz sind. Wenn wir aufhören würden, alles zu kaufen, zu konsumieren und unser Geld zu den Haifischen und Daxen zu bringen, wäre das Objekt der Begierde nicht der verbilligte Diesel, sondern vielleicht das Überleben der Kinder im Niger.

Unsere Arbeit – ganz gleich, ob auf dem Feld, auf dem Wasser oder dem Mond – findet nur noch unter den Vorzeichen des Geldes statt. Und weil jetzt einige nur an Papiergeld und Münzen denken, sei ihnen gesagt, ich meine damit den Mammon – ein Gemisch aus Macht, Besitz und Selbstzufriedenheit, das uns unfähig macht, natürlich zu sein.

Also, damit es uns nicht schlechter gehen soll, denken wir, dass die Parteien im Bundestag uns helfen können, indem wir Traktor fahren, uns auf die Straße kleben und das Brandenburger Tor orange anstreichen. Völliger Blödsinn. Wir sehen zwar, dass das Proletariat mehr zu verlieren hat als seine Ketten, aber das falsche Feindbild der wohlgenährten Unzufriedenen bringt die Milliardäre aller Länder zum Schmunzeln. „Haltet euch an Politiker!“, rufen sie und jagen die Kritiker aus ihren Palästen, von den Feldern, Gruben und Wäldern, flankiert von der Polizei.

Wussten Sie noch nicht? Politiker ist ein Beruf, mit dem man gut verdienen kann. Eine Stelle als Volksvertreter in einem imperialistischen Staat ist gut gepolstert, solange man die Spielregeln beachtet. Aber den Klimaaktivisten, Bauern und Pflegekräften können sie nicht wirklich helfen.


1.    Erstens können die Ministerien doch nur das verteilen, was da ist. Und wenn die Reichen und Schönen keine Steuern bezahlen und das gesamte Bruttosozialprodukt in Deutschland noch mal als Schwarzgeld unterwegs ist?


Satz: Ohne ein solidarisch funktionierendes Steuersystem kann es keine Demokratie geben.


2.    Zweitens geht es doch lediglich darum, von dem, was noch da ist, ein Stück abzubekommen. Sicher eine Notwendigkeit bei dem völlig aus den Fugen geratenen Markt. Nur kommen erst die unsichtbaren Monopole mit ihren klebrigen Tentakeln, die auf alle geldverwaltenden Institutionen ihren Einfluss haben.

Satz: Ohne eine progressive Besteuerung der oberen Zehntausend und ohne Steuerentlastung der Kleinbetriebe wird es keinen sozialen Frieden geben.


3.    Drittens: Wo ist die exekutive Macht, die uns vor den Machenschaften der Jongleure des fiktiven Kapitals beschützt? Cum-Cum, Wirecard und ein Arsch voll Spitzbuben in den Behörden verunstalten die Einnahmen- und Ausgabenseite tausendmal schlimmer als es die Planwirtschaft der DDR je konnte.

Satz: Die im Sande verlaufende Verfolgung und Zur-Rechenschaft-Ziehung von Wirtschaftsdelikten ist ein Katalysator für die Verwahrlosung der Verwaltung der Demokratie.


4.    Schließlich viertens: Und wenn die Politiker denken, der Weg zur Weisheit könne durch verschiedene Ansichten und Meinungen gepflastert sein, alle könnten ihre Religionen und Weltanschauungen fröhlich ausleben, dann ist das ein scheinheiliger Humanismus. Denn genau dieses Gebräu von Unwissenschaftlichkeit des Denkens in Partnerschaft mit den technischen Möglichkeiten der Kommunikation wird die Grundrechte zu Grabe tragen.

Satz: Die Hoffnung, die Demokratie könne Meinungen domestizieren, ist eine Illusion.


Erst der Wind, der in die Blätter fegt, scheint zu ordnen.

Die Beliebigkeit kommt abhanden und

die Kraft des Windes scheint zu ordnen nach unten und oben.

Symmetrie zwischen Gravitation und potenzieller Energie formt ein neues Dasein.

Eine Windhose, ein Tornado oder ein Hurrikan.


Mittagessen in der Gemeinschaft

Schuld ist immer der Essenanbieter


Liebe Eltern,

liebe Geburten, die noch nicht oder noch in die Schule gehen,

ich habe volles Verständnis, wenn Sie und Ihr für den Mittagessenanbieter kein Interesse habt und sich jeder um seine eigene Mittagessenvariante kümmert. Die Große Freiheit erlaubt es uns allen, sich zwischen Linke und Wagenknecht, Instagram und TikTok zu entscheiden, warum da nicht auch zwischen Schmorkohl in und Fritten außerhalb der Schule? Es steht allen im Grunde alles frei. Zumal Sie abends mit Lafer, Mälzer und Schuhbeck schauen können, wie man sich auch am Abend gesund unterhält.

Wenn Sie nicht mehr zum Bäcker, zum Fleischer, in die Gaststätte oder in der Schule zum Mittagessen gehen wollen, weil es dort so teuer ist, dann tut es mir nicht leid, weil ich es mir auch nicht mehr leisten kann.

Vielleicht liegen wir ja auch falsch und es braucht gar kein Mittagessen mehr? Es ist doch ganz gut, wenn nur 10 bis 20 % der Schüler mitessen. Würden alle versuchen, in 35 Minuten am Mittagessen teilzunehmen, müssten wir über das Thema Waffen im Speiseraum nachdenken.

Mal sehen, was die Zeitenwende außer Fast Food, Veggieburger, Geschlechterdiversität und Mobilmachung für die Verteidigung dieser Werte noch so bringt. Apropos, was kostet eigentlich ein Mittagessen bei der Bundeswehr?

10.11.2023

           

Liebe Töchter und Söhne,

liebe Enkel,

solltet Ihr wissen wollen, was ich zu dem Konflikt im Nahen Osten – heute kurz – sagen würde, dann schaut Euch das Interview in den Tagesthemen vom 07.11.23 mit Gideon Levy an. 

www.tagesschau.de/multimedia/sendung/tagesthemen/video-1269928.html.de

Wer was anderes sagt, insbesondre über Levys „Traum“ am Ende des Interviews, liegt falsch, hat die Geschichte nicht verstanden oder will sie aus Eitelkeit nicht verstehen.

Es gibt sie – Evolution sei Dank –, diese unmoralischen Stimmen, die sich – wie kristallklares Wasser eines Regenwald-Wasserfalls – in die Jauche menschlicher Abgründe stürzen und dabei das türkisfarbene Leben in den Augen nicht verlieren.

Die Kunst dieser Typen besteht im Überleben, ohne ihr Denken zu verkaufen. Nicht dass diese Überflieger Angst vor dem Tod hätten – aber wer tritt dann für die Wahrheit ein? Das ist die Krux eines investigativen Journalisten. Es sind die Jesuanischen unter den Gläubigen.


Bleibt in der Nähe!


Papa


08.11.23

Es gibt sie noch – die Stimme der objektiven Wahrheit

Eine Beifallsbekundung für das Bekenntnis des Philosophen Slavoj Žižek in seiner Rede zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse am 18.10.2023


Danke, du Held!

Seit 2000 Jahren quält sich die Welt mit den drei abrahamitischen Religionen. Nie war es die Zeit, auf jener Wahrheit zu bestehen, dass sie alle den gleichen Gott haben, und ihre Heiligtümer in Museen vergänglicher Weltbilder umzuwandeln.

Es scheint immer nur die Sehnsucht nach einer gerechten Behandlung aller Beteiligten zu sein, die alle antreibt, Antisemitismusbeauftragte, Staatsmänner, Journalisten und sonstige Diplomaten.

Keiner ist bereit, sich schuldig zu bekennen, diesen selbstgemachten Nahostkonflikt immer weiter schmoren zu lassen.

Es scheint gar, als kämen die Kriege zur rechten Zeit – da braucht man erst einmal nicht am Grundsätzlichen weiterzudoktern. Vergessen sind die Sünden des Tagesgeschäftes. Der Schurke wird zum Kriegsherrn, das Museum wird Strategie.

Keiner ist gewillt, seinen persönlichen Gott zu töten. Dann lieber: „Auge um Auge – und die ganze Welt wird blind sein“ (Gandhi).

Ich aber sage euch: Ihr, die ihr die Wahrheiten verdreht, weglasst, verfälscht, ausdünnt usw., überseht, dass alles auf dem Tisch ist. Noch nie waren wir wissenschaftlicher in der Lage, Blödsinn von realen Fakten zu trennen. Wir dienen nur dem falschen Herrn: dem Mammon – und der braucht Trolle, keine unbestechlichen Richter und Regierungen.

Was wird nun, wenn die Informationsverarbeitung eine Dimension erreicht, bei der wir nicht mehr rasch erkennen können, wenn mit 5G-Geschwindigkeit friedliche Wahrheiten radiert, verdreht, verfälscht, versteckt und zerredet werden?

➤ Glaubt, woran ihr wollt, wenn es euch glücklich macht, aber bedenkt, dass es einen Gott, für den man tötet, nicht gibt. Die Eintrittskarte zu allem, was ihr euch so Allzumenschliches vor und nach dem Tode wünscht, kann nur pazifistisch sein.

➤ Die Trennung von Staat und Religion ist der Minimalkonsens für eine natürliche Regelung des Zusammenlebens auf diesem Planeten.

➤ Zu akzeptieren, dass wir Teil der Wahrheit sind, aber dazu nichts weiter beizutragen haben, als dieser zu gehorchen, ist die notwendige und hinreichende Bedingung, um ohne Psychiater oder Heilpraktiker durch das Leben zu kommen. Unglaublich!


Lutz Richter

Stralsund, 19.10.2023