Gehorsam
Zu-handen-heit und Geborgenheit
Nöte des Überlebens und Zusammenlebens

Wir sind da. Dieses Da-Sein ist unsere Existenz. Das Da-Sein bestimmt die Existenz. Ein vorzüglicher Begriff für die Dimension der Existenz ist Heideggers „Zu-handen-heit“. Wenn Existenz diesen begrenzten Raum in der Zeit verlässt, schadet es dem Sein. Die frohe Botschaft ist, dass diese Begrenzung so in Ordnung geht: Je kleiner meine Einsicht, je kleiner der Horizont, je unwissender ich bin, umso vorsichtiger hat sich meine Ideenwelt mit der Realität zu vermählen. Das meinte Jesus mit „gehorsam sein“. Das ist unsere heterogene Bestimmung durch das Da-Sein. Es ist die dauerhafte Möglichkeit, in jeder geschichtlichen Situation bewusst hier zu sein.

Gehorsam ist der Vater der Geborgenheit und die natürliche Dimension unseres Daseins. Darin zu bleiben heißt, das Da-Sein so zu begrenzen, dass es allem Leben die Möglichkeit gibt, auch hier zu sein. (Richter, Reihen und Folgen, 2009, unveröffentlicht)


Vorbilder
Kritische Disziplinierung der Orientierung
Platon

SIEBENTER BRIEF (Auszug) „Da Viele mit der damaligen demokratischen Staatsverfassung unzufrieden waren, so entstand eine Umwälzung derselben, und einundfünfzig aristokratische Männer stellten sich an die Spitze derselben, davon walteten elf in der Stadt Athen und zehn in der Hafenstadt Peiraieus als Unterbehörden, jede von beiden in Markt- und andren notwendigen Polizei-Ämtern, die übrigen Dreißig aber machten sich zu unabhängigen Herrn des Staates. Unter diesen hatte ich einige Verwandte und Bekannte, und sonach luden sie mich alsbald zur Teilnahme an ihrer Politik, weil sie glaubten, daß diese mir willkommen sein würde. Und da war es kein Wunder, wenn ich aus jugendlicher Unerfahrenheit mich dazu verleiten ließ. Ich hegte nämlich den Glauben, sie würden den Staat aus seinem moralisch zerrütteten Leben herausschaffen und ihre Verwaltung denn doch auf eine vernünftige moralische Grundlage stützen, und darin widmete ich ihren politischen Reformen ein aufmerksames Augenmerk. Nach meiner Beobachtung nun zeigten diese Herrn in kurzer Zeit, daß der frühere politische Zustand noch Gold gewesen war.

Und als ich erst sah, wie sie unter andern den Sokrates in seinen älteren Jahren, den mir so teuren Mann, welchen ich den Besten der damaligen Welt zu nennen keinen Anstand nehmen möchte, nebst anderen Gesellen ihres Gelichters ausschicken wollten, um ihnen einen der Bürger mit Gewalt, natürlich zur Schlachtbank, vorzuführen, und wie sie das offenbar aus keiner anderen Absicht taten als daß Sokrates, sei es mit oder ohne Willen, als Teilnehmer ihrer Politik gelte. Dieser aber folgte nicht ihrem Befehle und wollte sich lieber der größten Lebensgefahr unterziehen als ein Genosse ihrer verbrecherischen Staatshandlungen werden. Als ich, sag‘ ich alle diese und noch etwelche andere Greueltaten ansah, da bekam ich einen Ekel an dieser neuen Politik und zog mich zurück von der damaligen schlechten Aristokraten-Wirtschaft.“

Friedrich Schiller

Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? – Eine akademische Antrittsrede (Auszug). „Anders ist der Studierplan, den sich der Brodgelehrte (…) vorzeichnet. Jener, dem es bei seinem Fleiß einzig und allein darum zu thun ist, die Bedingungen zu erfüllen, unter denen er zu einem Amte fähig und der Vortheile desselben theilhaftig werden kann, der nur darum die Kräfte seines Geistes in Bewegung setzt, um dadurch seinen sinnlichen Zustand zu verbessern und eine kleinliche Ruhmsucht zu befriedigen, ein solcher wird beim Eintritt in seine akademische Laufbahn keine wichtigere Angelegenheit haben, als die Wissenschaften, die er Brodstudien nennt, von allen übrigen, die den Geist nur als Geist vergnügen, auf das sorgfältigste abzusondern. Alle Zeit, die er diesen letztern widmete, würde er seinem künftigen Berufe zu entziehen glauben und sich diesen Raub nie vergeben. Seinen ganzen Fleiß wird er nach den Forderungen einrichten, die von dem künftigen Herrn seines Schicksals an ihn gemacht werden, und alles gethan zu haben glauben, wenn er sich fähig gemacht hat, diese Instanz nicht zu fürchten. Hat er seinen Cursus durchlaufen und das Ziel seiner Wünsche erreicht, so entläßt er seine Führerinnen – denn wozu noch weiter sie bemühen? Seine größte Angelegenheit ist jetzt, die zusammengehäuften Gedächtnißschätze zur Schau zu tragen und ja zu verhüten, daß sie in ihrem Werthe nicht sinken. Jede Erweiterung seiner Brodwissenschaft beunruhigt ihn, weil sie ihm neue Arbeit zusendet oder die vergangene unnütz macht; jede wichtige Neuerung schreckt ihn auf, denn sie zerbricht die alte Schulform, die er sich so mühsam zu eigen machte, sie setzt ihn in Gefahr, die ganze Arbeit seines vorigen Lebens zu verlieren. Wer hat über Reformatoren mehr geschrieen als der Haufe der Brodgelehrten? Wer hält den Fortgang nützlicher Revolutionen im Reich des Wissens mehr auf, als eben diese? Jedes Licht, das durch ein glückliches Genie, in welcher Wissenschaft es sei, angezündet wird, macht ihre Dürftigkeit sichtbar; sie fechten mit Erbitterung, mit Heimtücke, mit Verzweiflung, weil sie bei dem Schulsystem, das sie vertheidigen, zugleich für ihr ganzes Dasein fechten. Darum kein unversöhnlicherer Feind, kein neidischerer Amtsgehilfe, kein bereitwilligerer Ketzermacher als der Brodgelehrte. Je weniger seine Kenntnisse  durch sich selbst ihn belohnen, desto größere Vergeltung heischt er von außen; für das Verdienst der Handarbeiter und das Verdienst der Geister hat er nur  einen Maßstab, die Mühe . Darum hört man Niemand über Undank mehr klagen, als den Brodgelehrten; nicht bei seinen Gedankenschätzen sucht er seinen Lohn, seinen Lohn erwartet er von fremder Anerkennung, von Ehrenstellen, von Versorgung. Schlägt ihm dieses fehl, wer ist unglücklicher als der Brodgelehrte? Er hat umsonst gelebt, gewagt, gearbeitet; er hat umsonst nach Wahrheit geforscht, wenn sich Wahrheit für ihn nicht in Gold, in Zeitungslob, in Fürstengunst verwandelt.“

Eine Frau

DIE ZEIT, AUSGABE 39/01 vom 20.09.2001, Irene Dische: Als wir noch Kinder waren. Eine New Yorker Utopie – mitten in der Katastrophe (gekürzt). „Der Ruf nach Vergeltung stammt nicht aus New York, sondern aus den Fernsehstudios. Widerspruch war nicht erwünscht. Aber manchmal rutschte er eben doch ins Programm. Zum Beispiel in ein haarsträubendes Interview der Fernsehikone Barbara Walters. Hinter perfekt geschminkter Mitleidsmaske fragte die Journalistin die schnell ausfindig gemachten Trauernden, was sie jetzt fühlten, unter ihnen eine Frau, die ‚ihr Liebstes‘, ihren Mann, verloren hatte. Sie alle weinten, hielten Fotografien der Opfer hoch, Verlobte, Freunde, Brüder, und sie flehten die Zuschauer an, beim Suchen zu helfen. Die Kamera verwandelte sich in einen Voyeur. Bis jene Frau ins Bild kam, deren Mann Sommelier im Windows on the World gewesen war, dem Restaurant in der höchsten Etage des Turms, der als erster fiel. Die junge Frau war traurig, aber gefasst, und sie sagte Mrs. Walters, sie wisse, dass ihr Mann tot sei, und hege keine Hoffnung, ihn je wiederzusehen. Doch sie sei sich auch gewiss, dass ihr Mann eine Botschaft an das amerikanische Volk hätte. ‚Was für eine?‘, fragte Mrs. Walters, gespannt auf einen emotionalen Höhepunkt. Die Witwe blickte direkt in die Kamera und sagte: ‚Er würde jede Rache ablehnen. Keine Vergeltung. Keine Rache. Er würde mit den Tätern sprechen wollen. Sein Tod kann nicht rückgängig gemacht werden, indem wir das Blut anderer Menschen vergießen.‘ Mrs. Walters war tief schockiert. ‚Wie meinen Sie‘, stotterte sie, ‚glauben Sie, dass wir unsere andere Wange hinhalten sollen?‘ (War das nicht eine alte christliche Idee?) Die junge Witwe wollte nicht streiten, sondern wiederholte ihren Standpunkt: ‚Ich weiß, dass er daran glaubte, ein Gespräch sei fruchtbarer als Gewalt. Wir sollten versuchen, eine Wiederholung dieses Verbrechens zu verhindern, indem wir mit denen, die uns hassen, zu einem gemeinsamen Verständnis kommen.‘ … Unter all den Wiederholungen auf den Kanälen tauchte dieses Interview nicht mehr auf.“

Bekennen
Orientierung durch Selbstbindung

Selbstlosigkeit – Der eindeutig und allseitig werdende Mensch scheint ja gerade deshalb nicht möglich zu sein, weil durch die Beliebigkeit der Werteangebote sich keinerlei Instrumentarien anzubieten scheinen, die einen Sinn machen. Der Gedanke eines Himmelreichs auf Erden ist nichts anderes als der Wille, dieser Beliebigkeiten Herr zu werden. Dieses wirklich edle Lebensziel ist aber nur möglich, wenn der Mensch sich selbst überwindet und seinen Leib als Grund für seine Vieldeutigkeit akzeptiert. Die versteckten Fette, wie Sündenbock, Revolution, Krieg, Rechtfertigung, Fortschritt und Wirtschaftswachstum, sind die gefährlichsten. Wir sind erst in der Nachfolge der Elemente, in der Bewegung eines vernunftbegabten Tieres, wenn unser Leib am Leben der anderen Organismen teilhat und teilnimmt. Die Dimension des Menschen ist die ökonomische Planung seines Lebensraumes, aber nicht für Akkumulation und Rendite – also nicht zum Selbstzweck –, sondern als ökonomische Ökologie im Rahmen der Erde. Jeder gegen jeden – verliert angesichts der Bedeutungslosigkeit des Ichs am Ganzen an Sinn. (Richter, Reihen und Folgen, 2009, unveröffentlicht)